PARIS. Das Objekt des Anstoßes thront knallrot und weithin sichtbar am Ufer der malerischen Saint-Louis-Insel im touristischen Herzen von Paris. Mit einem Öko-Urinal unter freiem Himmel wollte die französische Hauptstadt dem Wildpinkeln entgegentreten – und hat unfreiwillig einen Treppenwitz des Sommers geschaffen.
Wer sich hier erleichtert, hat einen 1a-Blick auf die vorbeifahrenden Touristenboote auf der Seine und die Liegestühle am gegenüberliegenden Ufer. Pinkeln auf dem Präsentierteller: ein Anblick, der prompt eine Welle an Spott und Kritik auslöste.
»Das ist so eine Geschmacksverirrung«, sagte eine Händlerin aus der Nachbarschaft der Zeitung »Le Parisien«. »Paris macht sich lächerlich.« Die frühere Präsidentin des einflussreichen Arbeitgeberverbands Medef, Laurence Parisot, wetterte auf Twitter über einen »neuen Pariser Unsinn«.
Sogar die renommierte Zeitung »New York Times« nahm sich des Themas an – und wertete es als Beispiel für eine Art des öffentlichen Aufschreis, die »eine Spezialität der Franzosen« sei: »witzig, politisch scharf und auf das Erscheinungsbild fokussiert«.
Die Erfinder des Open-Air-Pissoirs, das von einem Start-up aus Nantes stammt, sind bedrückt über die »haarsträubenden Ausmaße«, die das Thema angenommen hat. Und sehen den Fehler bei der Pariser Stadtverwaltung: »Das Problem liegt in der Positionierung«, sagt Designer Laurent Lebot der Deutschen Presse-Agentur. Das »Uritrottoir« getaufte Urinal sei nicht dazu gedacht, exponiert am Ufer der Seine zu stehen, sondern sollte eher dezent in Ecken verschwinden. »Das ist normal, dass es da eine Polemik gibt.«
Lebot wirbt für das Konzept: ein Mittel, um Männer vom Wildpinkeln abzuhalten – damit die Stadt sauberer wird. Kompostierbares Material nimmt den Urin auf, später wird daraus dann ein natürlicher Dünger. Das Gerät kann sogar per Internet Alarm schlagen, wenn der Behälter ausgewechselt werden muss – und lässt sich im Gegensatz zu den mehr als 400 öffentlichen Toilettenhäuschen in Paris zielgenau dort platzieren, wo abends draußen Alkohol getrunken wird.
Vier »Uritrottoirs« hat die Stadt Paris testweise aufgestellt – ansonsten wird das Konzept bereits in Nantes und einer Gemeinde in der Bretagne erprobt. Für einen Aufschrei sorgte erst das Urinal auf der Seine-Insel.
Nun ist Paris bei Weitem nicht die einzige Stadt, die mit dem Wildpinkel-Problem zu kämpfen hat. Mancherorts wird schon auf wasserabweisenden Speziallack gesetzt, damit der Urin von der Wand zurückspritzt. Freiluft-Urinale findet man auch andernorts – in BRÜSSEL gibt es sogar eins an der Außenwand einer Kirche. In KOPENHAGEN werden immer dann öffentliche Pissoirs aufgestellt, wenn in der dänischen Hauptstadt gefeiert wird. Trotzdem riet der Veranstalter des Innenstadt-Festivals Distortion Anwohnern schon, Wildpinkler mit Wasserpistolen zu beschießen.
In MADRID hat es bis vor kurzem kaum öffentliche Toiletten gegeben. Vielleicht ist es deshalb für viele Madrilenen heute immer noch ganz »normal«, sich an einem Baum oder einer Wand, an der Rückseite des Kiosks oder des Müllcontainers zu erleichtern. Kaum eine andere Stadt stinkt (vor allem im Sommer) so sehr nach Urin. Seit dem vergangenen Jahr stellt die Stadtregierung aber immer mehr moderne WC-Häuschen auf. Die Benutzung kostet 10 Cent. Die rund 130 Häuschen verfügen sogar über WLAN. Man darf es sich aber nicht allzu lange dort bequem machen. Nach 15 Minuten öffnet sich die Tür automatisch.
In GROSSBRITANNIEN geht die Zahl der öffentlichen Toiletten seit Jahren aus Kostengründen zurück. Dies betrifft auch beliebte Touristenzentren wie die Grafschaft Cornwall an der Südwestspitze Englands mit ihren weißen Stränden und hübschen Dörfern. Wildpinkeln wird einer Umfrage des Senders BBC zufolge landesweit kaum geahndet. In London nutzen die Menschen in der Not einfach oft die Klos der vielen Pubs, auch wenn sie kein Bier bestellt haben.
Anders sieht es im südostasiatischen Stadtstaat SINGAPUR aus – einem der saubersten Länder der Welt. Dort sind öffentliche Toiletten eigentlich immer in Reichweite: in Shoppingmalls, U-Bahn-Stationen oder auch einem der vielen Märkte mit Straßenküchen. Wer trotzdem wild pinkelt, muss mit einer Geldbuße rechnen – so wie übrigens auch Leute, die nach dem Gang aufs Klo nicht spülen und sich dabei erwischen lassen. Die Strafe: umgerechnet 96 Euro.
In DUBAI und anderen Golfstaaten spielt sich das Leben größtenteils nicht auf der Straße ab: Es ist die meiste Zeit des Jahres einfach zu heiß. Die Menschen fahren mit den Autos zur Arbeit, zu Malls, zu Hotels oder Pools. Dort gibt es Toiletten, einen gesteigerten Bedarf an öffentlichen Klos gibt es daher nicht. Zudem fehlt in Dubai und anderen arabischen Staaten auch ein treibender Faktor: das übermäßige Trinken alkoholischer Getränke.
Der zuständige Pariser Bezirksbürgermeister Ariel Weil hat inzwischen klargemacht, dass über die Frage des Standorts des knallroten Uritrottoirs nochmal mit den Anwohnern entschieden werden solle. Aber das System bleibe eine »geniale Erfindung«, schrieb er auf Twitter. Auch manche Kritiker des Standorts haben eingeräumt, dass es durchaus Bedarf gibt – schließlich sind die Ufer der Seine-Insel abends ein beliebter Treffpunkt für junge Leute. Ob die Pariser dem knallroten Urinal eine zweite Chance geben?