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Die Fußball-EM als Wagnis

Spaniens Nationaltrainer Enrique drängt auf Impfungen seiner Spieler. Turnier der Ungewissheit

Joachim Löw
Bundestrainer Joachim Löw wird seinen EM-Kader bekanntgeben. Foto: Federico Gambarini/dpa
Bundestrainer Joachim Löw wird seinen EM-Kader bekanntgeben. Foto: Federico Gambarini/dpa

REUTLINGEN. An diesem Freitag startet die Fußball-Welt in ein großes europäisches Abenteuer. Der Anpfiff ertönt um 21  Uhr zwar in Rom, wo sich Italien und die Türkei gegenüberstehen. Doch ist Italien nur Co-Gastgeber, einer unter elf anderen Nationen. Von Aserbaidschan bis Ungarn reicht die Palette der Ausrichter-Länder. Die Idee, einst von Michel Platini, dem damaligen Präsidenten des Europäischen Fußball-Verbandes Uefa, vorgestellt und nun realisiert, erscheint auf den ersten Blick reizvoll zu sein.

Was passt besser zu einem vereinten Europa, zu einer vernetzten, globalen Welt, als ein paneuropäisches Turnier, durch das auch Länder wie Ungarn oder Dänemark Gastgeber sein können, die bisher bei Großereignissen eher selten einen Austragungsort gestellt haben?

»Europa lebt und feiert das Leben«

Das galt bis zu dem Zeitpunkt, als die Coronakrise Einzug hielt. Ob die Austragung eines Turniers dieser Größenordnung in einem derartigen Ausnahmezustand mit Zuschauern noch zu verantworten ist, bleibt die Frage, die dieses Championat überschattet. Die gewaltigen Distanzen sind vor diesem Hintergrund nicht das größte Problem, auch wenn Mannschaften und Fans teilweise enorme Strecken zurückzulegen haben, um in die Spielorte zu kommen. So müssen die belgischen Nationalspieler, die in St. Petersburg und Kopenhagen ihre Gruppenspiele bestreiten, insgesamt 11 720 Kilometer im Flugzeug verbringen.

Auch dass bei 24 teilnehmenden Mannschaften und elf Spielorten einige Teams – wie Deutschland, England, die Niederlande und Italien – Heimspiele haben, Weltmeister Frankreich oder Titelfverteidiger Portugal aber nicht, fällt nicht gerade unter die Rubrik Chancengleichheit.

Die Euro zum Wagnis mit ungewissem Ausgang macht aber die Pandemie. Die Zulassung von Fans in die Stadien sorgt für Stimmung auf den Rängen, ist allerdings ein Spiel mit dem Feuer. Das Risiko, dass Virus-Varianten durch den Reiseverkehr problemlos die europäischen Grenzen überwinden und sich weiter ausbreiten, wird dadurch in Kauf genommen.

Da mag Aleksander Ceferin, der Präsident der Uefa, noch so sehr auf das Euphorie-Pedal drücken und verkünden: »Europa lebt und feiert das Leben.« Diese markigen Worte von Ceferin dürften allerdings in erster Linie Zweck-Optimismus sein.

Denn die Inzidenzzahlen unmittelbar vor Turnierbeginn fallen sehr unterschiedlich aus. Während etwa der Wert in Deutschland, Rumänien und Ungarn zuletzt sehr stark gefallen ist und auch in den einstigen Krisen-Ländern Italien und Spanien sich die Corona-Lage zusehends entspannt, gibt es nach wie vor auch die andere Seite. In Dänemark steigen die Zahlen wieder leicht und im russischen St. Petersburg werden täglich über 800 Neuinfektionen notiert. Ob Feiern angesichts dieser Werte das passende Verhaltensmuster sein sollte, darf bezweifelt werden.

Die Teams starten angesichts dieser Begleitumstände in ein Turnier der Ungewissheit. Von den wenigsten Mannschaften ist bekannt, dass sie geimpft wurden. In Deutschland war das durch die Priorisierung kein Thema. In Italien sieht man es anders und hat die Hoffnungsträger der Nation zwei Mal immunisiert.

Wie sehr das Virus für Wirbel sorgen kann, haben zuletzt Spanien und Schweden erlebt. Die beiden EM-Teilnehmer waren in den vergangenen Tagen im Krisen-Modus, nachdem es positive Corona-Tests in der Mannschaft gegeben hatte. Jetzt drängt der spanische Nationalcoach Luis Enrique auf eine Impfung für seine Spieler, sieht aber auch die Gefahr, die so kurz vor dem spanischen Auftaktspiel am Montag – ausgerechnet gegen die ebenfalls gehandicapten Schweden – auftreten kann: »Es würde mich stören, aufgrund einer Impfreaktion nicht mit einem Spieler planen zu können.«

Frankreich der Top-Favorit, Italien, Portugal, England und Deutschland in Lauerstellung, Dänemark als Außenseiter – diese Einschätzung könnte aber Makulatur sein, wenn ein Superstar oder mehrere Leistungsträger eines Teams positiv getestet werden sollten und ausfallen würden. Man stelle sich vor: Frankreichs Team geht in die Knie, weil es zur falschen Zeit am falschen Ort war und gleichzeitig Kylian Mbappé, Paul Pogba, Antoine Griezmann und N’Golo Kanté von der Pandemie außer Gefecht gesetzt werden. Und eine Mannschaft gewinnt die Europameisterschaft, die einfach mehr Glück hat und von solchen Ausfällen verschont bleibt.

Diese paneuropäischen Titelkämpfe dürften einmalig bleiben. Und wenn es nicht König Fußball wäre und die mit ihm verbundenen Vermarktungsmöglichkeiten, hätte es diese Idee vermutlich gar nicht erst gegeben. (GEA)