Logo
Aktuell Bilanz

Betörend und verstörend

Die erste und letzte paneuropäische Europameisterschaft musste zum Turnier der Widersprüche werden

Das Ende der Zurückhaltung: Fans am Trafalgar Square. FOTO: SALCI/DPA
Das Ende der Zurückhaltung: Fans am Trafalgar Square. FOTO: SALCI/DPA
Das Ende der Zurückhaltung: Fans am Trafalgar Square. FOTO: SALCI/DPA

ROM. Was in der Rückschau auf diese Fußball-Europameisterschaft bleibt? Vielleicht Begebenheiten wie eine in Rom unweit der Ponte della Musica. Die letzten Menschen strömten nach dem Viertelfinale zwischen England und der Ukraine aus dem Stadio Olimpico. Auf der anderen Flussseite standen rote Busse, ähnlich wie jene, mit denen in London die Menschen sich fortbewegen, aus denen in Rom aber Speisen und Getränke verkauft wurden.

Ein älteres Ehepaar in englischen Trikots bestellte ein letztes Bier. Dabei erzählte der seit Jahrzehnten in Italien lebende Brite mit geröteten Augen, dass er kurzfristig an Tickets gekommen sei, dass er das »Football’s Coming Home« mit Landsleuten singen konnte – das war für ihn kaum in Worte zu kleiden. Tränen kullerten über seine Wange, seine Frau nahm ihn in den Arm. »Notti magiche«, zauberhafte Nächte, betörende Momente hat es bei dieser umstrittenen Euro auch gegeben.

Johnson geht hohes Risiko

Doch wo sich Rom mit 11880 Zuschauern begnügt hatte, pressten sich vier Tage darauf in London zu Halbfinale zwischen England und Dänemark 64950 Besucher ins Wembleystadion. Wo es im italienischen Oval vielleicht auf den Rängen zu luftig gewesen ist, war es in der englischen Kathedrale definitiv zu gedrängt. Und das in einem Land, in dem die hochansteckende Delta-Variante des Corona-Virus ihr Unwesen treibt.

Am Endspieltag genügte der Blick auf die Sieben-Tages-Inzidenz, um die Unterschiede zu begreifen: Italien 12,2. England 311. Noch Fragen? Erst weit nach dem Endspiel wird man wissen, ob das Fußball-Feeling im Vereinigten Königreich mit schweren Corona-Erkrankungen oder auch Toten erkauft worden ist. Premier Boris Johnson ging sehenden Auges ein verstörendes Risiko. Dass der Grat bei diesem paneuropäischen Projekt schmal sein würde, war von vornherein klar. Letztlich aber gehört ein Verantwortungsgefühl fürs Publikum für jeden Veranstalter dazu – in Ungarn und England hat der gesunde Menschenverstand ausgesetzt. Vielleicht auch, weil vielerorts die Macht des Fußballs die Sinne betäubte, trotz oder gerade wegen Corona? Die Europameisterschaft war ein waghalsiger Großversuch, gelenkt von geschäftlichen Interessen. Die Erlöse aus dem Ticketverkauf sind bei Gesamteinnahmen von über zwei Milliarden Euro – das Gros durch den Verkauf der Medienrechte – nicht zu verachten.

Am kurzfristig mit zusätzlichen Spielen beschenkten Spielort Sankt Petersburg ist die Zahl der Corona-Infektionen rapide nach oben geschnellt. Die Infektionen von fast 500 Finnen, knapp 2000 Schotten und nach Einschätzung der Europäischen Gesundheitsbehörde ECDC auch 18 Deutschen stehen mit dem Turnier in Verbindung. Und all das strahlt direkt in die Politik hinein, die zwangsläufig zum Dauerthema wurde. Dass der Fußballplatz sich als politische Bühnen immer noch schwertut, war an dem unterschiedlichen Verhalten vor Anpfiff zu beobachten: Die einen knieten als Zeichen gegen Rassismus kurz nieder, die anderen blieben aufrecht stehen.

Nicht zwangsläufig versöhnend wirkte auch die Regenbogendebatte, die aus Deutschland mit Absolutheit vorgebracht wurde. Volkswagen durfte seine Werbebanden nicht überall bunt strahlen lassen – für Baku und Sankt Petersburg griff gar ein Verbot. Dass dann sogar eine Regenbogenflagge auf der Tribüne des Olympiastadions von Aserbaidschan konfisziert wurde, zeigt nur, dass die Verbeugung vor Despoten und Autokraten wie Ilham Alijew, Viktor Orbán oder Waldimir Putin seitens der Uefa viel zu weit ging.

Uefa-Präsident Aleksander Ceferin hat immerhin deutlich gemacht, dass das Modell einer paneuropäischen Europameisterschaft gescheitert ist. Es war die fixe Idee seines Vorgängers Michel Platini, der unter anderen Umständen dem wichtigsten Fußballturnier nach einer Weltmeisterschaft diese Idee vor neun Jahren überstülpte. Die Vergabe der Europameisterschaft nach Deutschland könnte eine Chance sein, aus vielen Fehlern zu lernen – und unvergessliche Erinnerungen zu erzeugen, ohne dafür unverantwortliche Gefahren einzugehen. (GEA)