REUTLINGEN. »Einen Abend zum Nachdenken und Nach-vorne-Handeln gegen Armut« hatte Vesperkirchenpfarrer Jörg Mutschler dem Publikum in der Vesperkirche versprochen. Und Visionen sollte es auch geben, also Ideen, Zukunftsgedanken, wie eine solidarischere und gerechtere Situation in der Stadt Reutlingen angegangen und umgesetzt werden könnte.
Doch zunächst zum aktuellen Zustand: »Wir leben glücklicherweise in einem Rechtsstaat, wenn hier auch nicht alles gerecht ist«, führte Paul Schlegl als ehemaliger Leiter der Katholischen Erwachsenenbildung zunächst aus. Das beste Beispiel dafür: »Armut in so einer reichen Stadt ist ein Skandal«, so Schlegl. Was aber wäre notwendig für eine gerechtere Verteilung des Reichtums? Paul Schlegl trug eine ganze Liste an Änderungen vor, wie etwa »ein angemessenes Grundeinkommen, milieuüberschreitende Begegnungen, soziale Stadtplanung, Bürokratieabbau« und einiges mehr.
Gegen Schubladendenken
Während der anschließenden Äußerungen diverser Armuts-Fachleute auf dem Podium sagte Bettina Noack vom Reutlinger Mütterzentrum: Wenn es in öffentlichen Diskussionen wie auch in der Politik um das Thema Armut und Selbstverschuldung gehe, »dann macht mich das Schubladendenken immer wütender, das ist manchmal wirklich nicht auszuhalten«. Ähnlich hatte sich auch schon Heiner Kondschak geäußert, der für die musikalische Umrahmung der Veranstaltung sorgte – er erwähnte aber auch, dass er selbst aus einer sehr armen Familie stamme. »Seit ich 15 Jahre alt war, beschäftigt mich das Thema – anstatt langsam altersweise zu werden, macht mich Armut aber immer wütender«, so Kondschak.
Sowohl AWO-Chef Ulrich Högel als auch Diakonieverbands-Geschäftsführer Dr. Joachim Rückle gingen auf die Ursachen für Armut ein: Krankheit, Tod von Angehörigen, Verlust des Arbeitsplatzes, Ausstieg in die Sucht – »und irgendwann macht die Psyche nicht mehr mit«, so Högel. »Die AWO hilft dort, wo sonst keiner hinguckt«, betonte er mit Blick auf die Klientel der Arbeiterwohlfahrt, auf die Wohnungslosen.
»Persönliche Krisen, Brüche im Leben«, führte Rückle als Gründe für Armut an. Der Diakonieverband versuche die Not zu lindern, mit Angeboten wie Vesperkirche und Tafel oder einem Nothilfefonds – »grundsätzlich will sich aber jeder selbst versorgen können. Wenn das nicht möglich ist, hat das was mit Würde zu tun«, so Joachim Rückle.
In Deutschland gelte nach den Ausführungen von Moderator Thomas de Marco eine alleinstehende Person als arm, »wenn sie weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Das sind monatlich rund 1 100 Euro«. Noch viel erschreckendere Zahlen präsentierte Asylpfarrerin Ines Fischer: Asylbewerber kriegen 18 Monate lang 310 Euro im Monat, was 29 Prozent weniger als Hartz-IV bedeutet. Ist das Asylverfahren positiv beschieden, kann die Unterstützung auf Hartz-IV-Niveau (432 Euro) aufgestockt werden. Wurde der Asylantrag aber abgelehnt, kann die Unterstützung auf einen Minimalbetrag von bis zu 163 Euro monatlich gekürzt werden. Arbeiten dürfen Menschen »in Duldung« allerdings auch nicht.
Wie man von so wenig Geld leben kann? »Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist damit nicht möglich«, so Fischer. Und das Signal sei: »Niemand will mit mir was zu tun haben.« Hoffnungsvoll sei, dass zurzeit 35 Prozent aller Flüchtlinge im Arbeitsmarkt angekommen sind. Aber: »Viele der Abgelehnten würden gerne in der Pflege arbeiten, dürfen aber nicht – und unsere Minister reisen durch die ganze Welt und suchen nach Pflegekräften«, sagte Ines Fischer. Auf keinen Fall sollten aber arme Bevölkerungsgruppen in der Stadt gegeneinander ausgespielt werden, waren sich die Diskutanten auf dem Podium einig.
Strukturelle Fehler
Haben sie eine Vision für eine gerechtere Situation in der Stadt? Noack forderte ein bedingungsloses Grundeinkommen, Högel »bezahlbaren Wohnraum für alle« und Ines Fischer sagte: »Wir sollten uns alle schämen, dass wir in Reutlingen eine Vesperkirche und die Tafel brauchen.« Strukturelle Fehler, die Armut begünstigen, sollten vor Ort, in Reutlingen angegangen werden.
Vesperkirchen-Pfarrer Jörg Mutschler sagte: »Wir müssen uns immer wieder um das Thema Armut kümmern.« Dabei verwies er auf eine Initiative mit dem Namen »Solidarity City« – verbunden mit der Hoffnung, »dass Reutlingen eine solidarische Stadt wird«. Hoffnung machte Heiner Kondschak mit dem Blick zurück auf Martin Luther King, der vor 57 Jahren eine Vision, einen Traum hatte – von der Aufhebung der Trennung von Schwarzen und Weißen. »Damals war das völlig undenkbar.« (GEA)