REUTLINGEN. Es geht um Millionen, um leere Kassen, um Steuern und Gebühren, schlicht um viel Geld, das die Stadt Reutlingen hat oder ihr fehlt. Die acht verschiedenen Fraktionen haben in der jüngsten Gemeinderatssitzung erwartungsgemäß kontrovers über die Haushalt- und Finanzlage der Stadt debattiert. Der GEA fasst die wichtigsten Aussagen zusammen:
Die Grünen (neun Sitze): »Ohne Steuererhöhungen nicht tragfähig«
»Zu einem Kompromiss gehören Schritte von jeder Seite« – jedoch hätten »einige Fraktionen« keinerlei Bewegung in ihrer prinzipiellen Ablehnung jeglicher Steuererhöhung gezeigt. So begründete Gabriele Janz für die Grünen und Unabhängigen, weshalb sie sich dem von CDU, FWV, WiR, FDP und AfD im Finanzausschuss beschlossenen Antragspaket ohne Steuererhöhungen am Ende nicht anschlossen. Ein Kriterium für die Grünen sei gewesen, »die Lasten solidarisch auf mehrere Schultern zu verteilen« – aber besagtes Antragspaket erfülle dieses Kriterium nicht. Aus Sicht der Grünen kann »ohne eine Steuererhöhung« kein tragfähiger Haushalt vorgelegt werden. Auch halte man die im Paket zur Gegenfinanzierung vorgeschlagene zusätzlich erhöhte Ausschüttung der GWG-Wohnungsgesellschaft für nicht vertretbar, »gerade in einer Zeit, in der wir darüber sprechen, dass die GWG stärker als bisher in den sozialen Wohnungsbau investieren« und mögliche weitere Aufgaben übernehmen solle. Zusammen mit SPD und der Linken Liste bringe man deshalb nun ein eigenes Antragspaket zur Abstimmung, das im Wesentlichen auf dem Haushaltsentwurf der Stadt basiert – Steuererhöhungen inklusive.
CDU (neun Sitze): »GWG hat immense Rücklagen angesammelt«
Keine Erhöhung von Grund- und Gewerbesteuer, keine Zuschusskürzungen für Vereine und Institutionen – auf diese Kurzform brachte Gabriele Gaiser die abweichenden Positionen der CDU zum Haushaltentwurf der Stadt. In der aktuellen Notsituation wolle die CDU die Bürger und mittelständischen Betriebe nicht zusätzlich belasten, so die Fraktionschefin, weshalb Steuerhöhungen inakzeptabel seien. Auch zeige die bundesweite Schätzung eine positive Entwicklung bei den Gewerbesteuereinnahmen auf. Das durch den Wegfall der Steuerhöhungen zusätzlich entstehende Defizit soll unter anderem durch eine »einmalige Zusatzausschüttung in Höhe von maximal 7 Millionen Euro« der GWG-Wohnungsgesellschaft finanziert werden – pro Haushaltsjahr. Davon seien 3 Millionen mit einem Sperrvermerk versehen und sollten nur ausgeschüttet werden, wenn nötig. Die GWG habe in den vergangenen Jahren »immense Rücklagen angesammelt«, so Gaiser, »weit über das erforderliche Maß hinaus«. Ein Personalkostendeckel für beide Haushaltsjahre soll jeweils 1,8 Millionen Euro zusätzlich sparen helfen, die Wiederbesetzungssperre von sechs auf neun Monate erhöht werden.
SPD (sechs Sitze): »Weder nachhaltig noch zukunftsfähig«
»Reutlingen ist in Not«, beschwor SPD-Fraktionschef Helmut Treutlein die Lage, die für viele Reutlinger schon existenziell sei. Zusammenhalt und Solidarität seien angesagt, »alle müssen einen Beitrag leisten«. Deshalb brauche es die Anhebung der Sätze bei der Grundsteuer und Gewerbesteuer. »Das schmerzt alle. Die SPD-Fraktion sieht dies jedoch als gemeinsame Anstrengung aller Kräfte in der Stadt.« Die konservative Mehrheit ziele mit ihrem Konzept aber nicht auf eine gerechte Verteilung der Lasten und auch nicht auf die ganze Stadtgesellschaft, »weil sie einer Klientel eine moderate Steuererhöhung nicht zumuten will, die in anderen Städten längst erhoben ist«. Ihr Antrag enthalte Luftnummern und werde vom Regierungspräsidium nicht akzeptiert, prophezeite Treutlein. Die »Augen zu und durch«-Politik sei ungerecht und schade der Stadt. »Wir müssen die Kräfte bündeln und die Anhebung der Steuern vertreten«, gab Treutlein als Motto einer »nachhaltigen Haushaltsstrategie« aus. Angesagt sei, die Gewerbeflächenoffensive voranzutreiben, städtische Aufgaben und Strukturen auf den Prüfstand zu stellen und dem Klimawandel entgegenzuwirken.
FWV (fünf Sitze): »Schulden steigen bis 2025 um 90 Prozent«
Im Haushaltsentwurf der Stadt seien 50 Prozent der Investitionen kreditfinanziert, beklagte Jürgen Fuchs (FWV), »und die Schulden steigen bis 2025 auf über 183 Millionen Euro im Kernhaushalt, was eine Steigerung von 90 Prozent bedeutet«. Haushaltslücken mit Erhöhungen von Gewerbe- und Grundsteuer B zu füllen, gehe nach Meinung der Freien Wähler gar nicht. Eine Steuererhöhung zu vermeiden und diese dann mit anderen Mitteln zu kompensieren, habe sich deshalb zu einem maßgeblichen Punkt in den Haushaltsberatungen entwickelt. Als »Plan B« sei dann der »Blockantrag« entwickelt worden – der nun leider nicht mehr von allen Fraktionen getragen werde. Die FWV bleibe aber dabei – und lehne somit die Steuerhöhungen ab. Sie stelle mit Rücksicht auf den desolaten Haushalt keine neuen Anträge, die Kosten verursachen, betonte Fuchs. Sie trage deshalb die Vorschläge der Verwaltung zu den Anträgen von Vereinen, Institutionen, den Stadtbezirken, dem Integrationsrat und dem Jugendgemeinderat mit.
AfD (drei Sitze): »GWG soll drei Prozent ihrer Wohnungen verkaufen«
Hansjörg Schrade (AfD) arbeitete sich zunächst an der aus seiner Sicht »desas-trösen« haushaltspolitischen Situation auf Bundesebene ab, bevor er zum Reutlinger Etat kam. Steuererhöhungen lehne die AfD ab. Zum Doppelhaushalt habe sie nur Anträge gestellt, die Geld sparen. So will die Fraktion Mittel für den Radschnellweg oder den Masterplan Radverkehr streichen, Zuschüsse für die »Zelle« canceln und für »görls e.V.« und franz.K kürzen. Statt 40 neuer Stellen für den Ausbau der Kinderbetreuung soll Familien, die keinen Kita-Platz beanspruchen, ein »Familienbetreuungsgeld« von jährlich 5 000 Euro gezahlt werden. Als »skandalöses Beispiel, wie die Finanzen der Stadt zugrunde gerichtet werden«, nannte er die RSV. Nach seinem kritischen Rundumschlag ging Schrade zur GWG über. Empfehlung seiner Fraktion: Sie solle drei Prozent ihrer Wohnungen bevorzugt an langjährige Mieter verkaufen, was zur Vermögensbildung breiter Schichten beitrage, dämpfenden Einfluss auf die Preise habe und Gewinne generiere.
WiR (drei Sitze) »Steuererhöhung eindeutig das falsche Signal«
Pandemiebedingt basiere der Haushalt auf unsicheren Annahmen und könne deshalb nur grobe Richtschnur sein, die möglicherweise nachjustiert werden müsse, sagte Professor Dr. Jürgen Straub (WiR). Eins sei aber klar: "Steuererhöhungen wären eindeutig das falsche Signal." Höherer Grundsteuern verteuerten den Wohnungsbau und Mehreinnahmen bei der Gewerbesteuer seien zweifelhaft, denn die von "Corona gebeutelten" Betriebe könnten nicht Gewinne wie in den Vorjahren ausweisen. Um den Rückgriff auf Kassenkredite zu vermeiden, müsste die Personalsituation in der Verwaltung ebenso auf den Prüfstand wie öffentliche Dienstleistungen. "Nice-to-have ist out", so Straub. Oberstes Ziel sei die Erfüllung der Pflichtaufgaben." Er forderte einen "Nachhaltigkeitsplan" und verwies darauf, dass die vorgeschlagene Steuererhöhung durch einen reduzierten Personalkostenansatz, eine Verlängerung der Wiederbesetzungssperre und zusätzliche Ausschüttungen der GWG an die Stadt kompensiert werden könnten.
FDP (drei Sitze): »Wir müssen runter von zu hohen Kosten«
»Einfache Lösungen sind nicht immer die besten«, sagte Hagen Kluck (FDP) in seiner Haushaltsrede – eine Erhöhung der Hebesätze für Grund- und Gewerbesteuer wäre »die einfachste Lösung zur Schließung der Finanz-Löcher gewesen«. Aber wer jetzt an der Steuerschraube drehe, bremse das nach der Coronakrise dringend nötige Wachstum. »Hier geht es nicht um den Geldbeutel von Unternehmen«, so Kluck, »sondern um die Erhaltung bestehender und Schaffung neuer Arbeitsplätze.« Während der Vorberatungen habe er die Hoffnung gehabt, dass es auch bei den Grünen Bereitschaft zu einem Haushalt ohne Steuererhöhungen gebe: »Schade, dass dem nicht mehr so ist.« Die Liberalen hingegen blieben beim Vereinbarten, immerhin werde es auch ohne die Steuererhöhungen für die Erhaltung von Blumenschmuck und Wasserspielen reichen. Reutlingen habe kein Einnahme-, sondern ein Ausgabenproblem. Deshalb müsse die Stadt Aufgaben verlagern. »Wir müssen runter, von zu hohen Kosten und zu viel Bürokratie.«
LINKE LISTE (zwei Sitze): »Zukunftsaufgaben bleiben auf der Strecke«
Mit einer gerechteren Steuerpolitik und einer Umverteilung des »ungeheuren Reichtums« wäre die Mangelverwaltung, zu der der Gemeinderat gezwungen sei, nicht nötig, nahm Rüdiger Weckmann von der Linken Bezug zur Bundespolitik. Auch auf kommunaler Ebene müssten Belastungen gerecht verteilt werden. Deshalb stehe die Linke für eine Anhebung der Gewerbe- und Grundsteuern – auch, um dem Einnahmenproblem entgegenzuwirken. Dem von der konservativen Mehrheit vorgeschlagenen Haushalt fehle die soziale Ausgewogenheit, kritisierte Weckmann. Sein Investitionsvolumen ermögliche den Erhalt bestehender Infrastruktur und die Erfüllung von Pflichtaufgaben, mehr nicht. Geplante, aber noch nicht beschlossene Vorhaben müssten auf die lange Bank geschoben werden. Zukunftsaufgaben blieben auf der Strecke, eine Abwärtsspirale sei zu befürchten. »Das können wir alle nicht wollen. Insofern vertreten wir mit unseren Forderungen die Interessen aller Bevölkerungsgruppen dieser Stadt.« (GEA)