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Aktuell Demokratie

Oberbürgermeister und Reutlinger Landrat: Warum das Grundgesetz so wichtig ist

Thomas Keck, Oberbürgermeister Reutlingen: Die Menschenwürde steht nicht umsonst an erster Stelle

Mein Großvater war Soldat im Ersten Weltkrieg und kämpfte am Hartmansweilerkopf im Elsass. Bei den Kämpfen um den Berg wurden über 30.000 Menschen getötet. Es war ein sinnloses Blutvergießen. Dennoch traf er sich nach dem Krieg mit den ehemaligen Gegnern, um sich mit ihnen zu versöhnen. Von dem letzten Treffen im Jahr 1938 kam er bedrückt zurück. Alle fürchteten sich, dass ein neuer Krieg ausbrechen könnte, der womöglich noch größeres Leid über Europa bringen würde.

Ich habe viel über diese Geschichte nachgedacht. Mein Großvater hatte verstanden, dass die Versöhnung mit dem ehemaligen Gegner mehr bewirkt, als das menschenfeindliche Gedankengut radikaler Parteien. Dies gilt sowohl für die Zeit des Ersten Weltkrieges als auch für die Zeit der NS-Diktatur. Warum erzähle ich diese Geschichte? Wir leben schließlich in einer gefestigten Demokratie.

Ich erzähle diese Geschichte, weil ich zunehmend den Eindruck bekomme, dass ein solches Einigungswerk wie das Grundgesetz heute nicht mehr zu Stande kommen könnte – zu abgehoben sind unsere politischen und gesellschaftlichen Diskussionen. Dabei vergessen wir oftmals das große Ganze.

Reutlingens Oberbürgermeister Thomas Keck. Foto: Frank Pieth
Reutlingens Oberbürgermeister Thomas Keck.
Foto: Frank Pieth

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben diese großartige Verfassung zu Stande gebracht. Die Erfahrungen einer Gesellschaft, die eine nie dagewesene Kriegskatastrophe erlebt hat, mit all ihrem Leid, Tod, Terror, Vertreibung und Entmenschlichung, haben bewirkt, dass man sich darauf besonnen hat, auf was es im Leben und damit auch im Zusammenleben ankommt, über ideologische Barrieren hinweg. Nur so, in diesem tragfähigen Grundkonsens, konnte das Grundgesetz entstehen.

Heute beobachte ich immer mehr, dass unser Grundgesetz von radikalen und extremistischen Kräften missbraucht wird, um unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beschädigen und zu unterminieren.

In unserem Grundgesetz steht nicht umsonst die Würde des Menschen an erster Stelle, denn es war eben die Menschenwürde, die im NS-Staat als Erstes mit Füßen getreten wurde. Unser Grundgesetz verdient es, dass wir es verteidigen gegen die lautschreierischen Stimmen von Extremen und Radikalen. So wie mein Großvater, der erkannte, dass man Frieden schaffen kann, wenn man sich mit seinen ehemaligen Gegnern an einen Tisch setzt und Freundschaften schließt.

Dr. Ulrich Fiedler, Landrat Reutlingen: Ewige Garantie für unsere Grundrechte

Unser Grundgesetz ist nach meinem Dafürhalten die beste Verfassung der Welt. Sie war und ist immer noch starkes Vorbild für zahlreiche Staaten – hier in Europa, aber auch darüber hinaus. Aus der Erfahrung von Weimar heraus, gefolgt von der grauenvollen Diktatur des NS-Regimes haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes eine Verfassung geschaffen, die die Grundrechte mit einer Ewigkeitsgarantie belegen. Sie wurden damit im positivsten Sinne zementiert.

Ich sehe gerade im vielzitierten Artikel 1 »Die Würde des Menschen ist unantastbar« mit seinen weiteren Absätzen ein starkes und kraftvolles Einstehen für die unverletzlichen Menschenrechte. Ebenso die nachfolgenden Artikel – die teilweise in kurzen, aber sehr klaren Sätzen unsere Grundrechte festhalten – beeindrucken mich immer wieder. Sie zeichnen damit unseren Staat aus, der für Freiheit und Offenheit steht. Sie zeichnen damit auch unser alltägliches Zusammenleben aus.

Vor dem Hintergrund der anstehenden Europa- und Kommunalwahlen am 9. Juni greife ich einen weiteren Satz, der in Artikel 20 zu lesen ist, heraus: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus«. Diese Staatsgewalt wird durch freie, gleiche, geheime, unmittelbare und allgemeine Wahlen ausgeübt.

Reutlingens Landrat Dr. Ulrich Fiedler. Foto: GEA
Reutlingens Landrat Dr. Ulrich Fiedler.
Foto: GEA

Ich lese darin eine Aufforderung, gar eine Pflicht, dieses Grundrecht wahrzunehmen. Ich bitte daher alle wahlberechtigten Personen: Gehen Sie wählen – ob am Wahltag im Wahllokal oder per Briefwahl. Machen Sie von Ihrem Wahlrecht Gebrauch und entscheiden Sie mit über die Zukunft Europas, unseres Landkreises und unserer Städte und Gemeinden. Mit diesem demokratischen Handeln, mit jeder abgegebenen Stimme, wird unsere Verfassung immer wieder neu bestärkt.

Als Landrat habe ich mich durch meinen Amtseid verpflichtet, das Grundgesetz zu achten und zu verteidigen. Durch meine Arbeit zolle ich unserer Verfassung täglich ihren Tribut. Das empfinde ich als unglaublich ehrenvolle Aufgabe, der ich jeden Tag mit Respekt und großer Freude nachgehe.

Boris Palmer, Oberbürgermeister Tübingen: Wenig zitiert, aber wichtig: zwei Beispiele

Ich möchte zum Jubiläum des Grundgesetzes zwei Artikel hervorheben, die wenig zitiert werden und in ihrem Kern bedroht sind: In Artikel 33 heißt es: »Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte.« Es steht dort gerade nicht, dass Hautfarbe, Herkunft oder sexuelle Orientierung ein Kriterium sind. Das sollten wir betonen, wenn mit der richtigen Absicht, Diskriminierungen abzubauen, das Leistungsprinzip ausgehöhlt wird oder Teilhabeforderungen auf Zugehörigkeit zu Opfergruppen gestützt werden.

Besonders wertvoll ist mir Artikel 28: »Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfasst auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung.«

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer. Foto: Bernd Weißbrod/dpa
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer.
Foto: Bernd Weißbrod/dpa

Diese Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden wird leider zunehmend ausgehöhlt. Einerseits verschwindet unser Gestaltungsspielraum zunehmend in einem Gestrüpp bürokratischer Überregulierung. Andererseits werden den Kommunen immer mehr Pflichtaufgaben übertragen, die nur unzureichend finanziert sind, so dass die finanziellen Spielräume immer enger oder unter der Aufsicht des gestrengen Regierungspräsidiums ganz beseitigt werden.

Der Grundrechtekatalog in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes ist grandios und unübertroffen. Diesen zu wahren, braucht es aber ein funktionierendes Staatswesen. Ich wage die Behauptung, dass eher unbekannte, aber richtige und klare Regelungen wie die genannten aus den Artikeln 28 und 33 aus diesem Grund nicht weniger bedeutsam sind, als die wenigen Sätze am Anfang, die jeder Deutsche kennt.

Das Grundgesetz hat ein Staatswesen geformt, das bis heute weltweit mit vollem Recht Anerkennung findet. Es lohnt sich, dieses zu verteidigen, wo immer es angegriffen wird. (GEA)