REUTLINGEN.. Ferdinand Kirchhof erklärt im GEA-Interview, wo die Stärken und Schwächen des Grundgesetzes liegen und in welchen Bereichen er Nachbesserungsbedarf sieht. Dabei geht es um Meinungsfreiheit und um eine Aufforderung zu mehr Zivilcourage.
GEA: Herr Kirchhof, ist das Grundgesetz aus juristischer Sicht eine gute Verfassung?
Ferdinand Kirchhof: Das Grundgesetz ist nicht nur eine gute Verfassung, es ist ein Glücksfall für Deutschland. Wir haben mit dem Grundgesetz über lange Jahrzehnte die besten Erfahrungen gemacht. Das Grundgesetz gilt als Meilenstein der deutschen Geschichte. Als es vor 75 Jahren verkündet wurde, fanden es viele Experten misslungen und gaben ihm eine kurze Lebensdauer.
Warum hat es sich dennoch bewährt?
Kirchhof: Zum einen hat es einem wieder entstandenen Deutschland sofort eine feste Struktur aus Bund, Ländern und Gemeinden gegeben und klare Verfahren für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung eingeführt. Zum anderen hat es dem einzelnen Bürger Grundrechte verliehen, die er mit der Verfassungsbeschwerde einklagen kann. Wenn jemand in Not ist, kann er heute sagen: Ich gehe nach Karlsruhe. Dieses Rechtsmittel hat der Bevölkerung gezeigt, dass der Staat für den Menschen da ist und nicht umgekehrt. Das hat entscheidend das positive Verhältnis der Bürger zum Grundgesetz geprägt.
»Das Grundgesetz ist ein Glücksfall für Deutschland«
Zur Erfolgsgeschichte gehört auch das Verfassungsgericht. Warum ist es so wichtig als unabhängige Instanz?
Kirchhof: Im Wortlaut sehr offene Verfassungsnormen brauchen eine Auslegung für sich stets ändernde politische, gesellschaftliche und technische Situationen. Grundrechte schützen den Bürger vor ungerechtfertigten Zugriffen des Staates. Dafür braucht man eine Kontrollinstanz, die den Schutz gewährleistet und nicht vor anderen Staatsorganen kuscht. Jüngstes Beispiel dafür sind die Entscheidungen zum Sondervermögen oder zum Klimaschutz.
Zur Person
Ferdinand Kirchhof (73) studierte in Freiburg und Heidelberg Jura. Er war Sachverständiger der Föderalismusreform. Seit 2007 war er Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und von 2010 bis 2018 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Kirchhof lebt mit seiner Frau in Reutlingen. (GEA)
Was ist im Grundgesetz besser im Vergleich zur Weimarer Verfassung?
Kirchhof: Die Weimarer Verfassung kannte auch Grundrechte, aber sie hatte kein Verfassungsgericht. Man hat damals die Grundrechte zu bloßen Programmsätzen erklärt und ihnen damit jeglichen Biss genommen. Heute gibt es Grundrechte, die jedermann zustehen, und ein Verfassungsgericht, das sie im Streitfall auch durchsetzt. Das Grundgesetz hat aus den Fehlern der Weimarer Republik gelernt, z. B. dem permanenten Wechsel der Reichsregierungen, die oft nur wenige Wochen Bestand hatten. Damals war der Staat teilweise handlungsunfähig. Das Grundgesetz stärkt die Stellung eines einmal gewählten Bundeskanzlers und stabilisiert damit die Bundesregierung. Das Grundgesetz spricht dem Parlament die wesentlichen und zentralen Entscheidungen in Staat und Gesellschaft zu. Das in Weimar mögliche Regieren mit präsidialen Notverordnungen aus der Exekutive wird so unterbunden.
»Der Bund zieht immer mehr Kompetenzen an sich«
Hat das Grundgesetz Schwächen? Und wenn ja, welche?
Kirchhof: Eine grundlegende Schwäche ist, dass man die größeren Einheiten nicht bremst, wenn sie den kleineren die Kompetenzen wegnehmen. Die Länder dringen mit ihren Gesetzen immer mehr in den Bereich der Gemeinden ein und beschränken deren Selbstverwaltungshoheit. Der Bund soll eigentlich nur Gesetze erlassen, soweit eine bundeseinheitliche Regelung erforderlich ist, sonst sind im Föderalstaat die Länder gefragt. Doch in der politischen Praxis zieht der Bund immer mehr Kompetenzen an sich und nimmt den Ländern so ihre Eigenständigkeit.
Und wie ist es mit Europa?
Kirchhof: Zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten gibt es dasselbe Problem, dass die Union immer mehr Kompetenzen an sich zieht, obwohl sie eigentlich für jede eigene Regel eine Einzelermächtigung der Mitgliedstaaten benötigt. Hinzu kommt, dass der Europäische Gerichtshof sich als Motor der europäischen Integration versteht und jede Gelegenheit zur Ausdehnung des EU-Rechts großzügig wahrnimmt. Er übernimmt teilweise die Rolle des Gesetzgebers in Europa.

Wieso gibt es keinen Aufschrei, dass Europa oder der Bund immer mehr entscheiden wollen?
Kirchhof: Es liegt vor allem daran, dass der Bevölkerung die Vorteile der föderalistischen Idee, dass die untere Ebene sach- und ortsnäher mit aktueller demokratischer Legitimation oft besser entscheidet, nicht bewusst sind. Die Bürger wollen lieber eine einheitliche Regelung. Sie stört eine Unterschiedlichkeit von Normen in den Mitgliedstaaten oder in den Bundesländern. Dabei bedeutet Föderalismus, dass jedes Bundesland und jeder Mitgliedstaat selbständig handeln und vor Ort entscheiden darf. Das sorgt für regionale Vielfalt und eine sachgerechte Rechtsordnung. Wir brauchen keinen Deichschutz in Bayern und keine Bergwacht in Schleswig-Holstein. Erst wo eine übergreifende Regelung aus Sachgründen unerlässlich wird, darf die Zuständigkeit der höheren Ebene einsetzen.
Die historische Erfahrung verblasst. Die Sorge vor einem zu starken Zentralstaat scheint bei den Bürgern nicht mehr vorhanden zu sein.
Kirchhof: Die Bürger sorgen sich nur bei der Europäischen Union vor einer Zentralisierung. In Deutschland gibt es dagegen kaum noch eine innere politische Verbundenheit mit dem eigenen Bundesland. Die Bevölkerung möchte eigentlich einen Zentralstaat, der für sie überschaubarer ist. Ein Beispiel: Als es Probleme mit Kampfhunden gab, wurde sofort der Ruf nach einer bundeseinheitlichen Regelung laut. Dabei gehört diese Materie zum Gefahrenabwehrrecht, für das die Länder zuständig sind. Sie müssen handeln, wenn ihr allgemeines Polizeigesetz nicht ausreicht.
»Internationale Verträge greifen immer tiefer in unser Leben«
Liegt es nicht auch daran, dass die Politiker oft nicht mutig genug sind? Eine unpopuläre Entscheidung wie bei Kampfhunden schiebt man gern der nächsthöheren Ebene zu.
Kirchhof: Das entspricht leider der politischen Praxis. Wenn der Bund ein Gesetz nicht erlassen will, weil es unpopulär ist, sagt er oft, dass eine EU-weite Vorschrift nötig wäre. Die Länder verfahren ebenso und schieben die Entscheidung dem Bund zu.
Immer mehr politische Fragen lassen sich nicht mehr auf nationaler Ebene regeln. Europäische Gerichte und internationale Verträge greifen immer tiefer in unser Leben. Wo muss der Einfluss Europas enden, damit das Grundgesetz nicht zu einer leeren Hülle wird?
Kirchhof: Gefragt ist hier eine strikte Einhaltung der Subsidiaritätsregel, dass vorrangig die kleinere Einheit entscheidet, und die höhere erst zuständig wird, wenn eine Regelung durch die untere nicht effektiv ist. Der Binnenmarkt muss z. B. europaweit geregelt werden. Vorschriften über Schulen und Rundfunk gehören aber in die Kompetenz der Mitgliedstaaten. Artikel 23 und 24 Grundgesetz ermöglichen es, zu diesem Zweck der Europäischen Union für Einzelgebiete Hoheitsrechte zu übertragen. Das ist in zahlreichen Fällen geschehen. Die europäischen Institutionen haben diese Einzelermächtigungen in der Praxis zu einer Generalbefugnis umgewandelt, mit der sie alles regeln, was auch nur den geringsten Bezug zur Union haben könnte. Das verhindert Sachgerechtigkeit und Vielfalt vor Ort. Es nimmt der Union viel an Akzeptanz in der Bevölkerung.
»Leider sind wir in dieser Frage nicht gut aufgestellt«
Sieht das Grundgesetz keinen Schutzmechanismus vor?
Kirchhof: Leider sind wir in dieser Frage nicht gut aufgestellt. Nach Artikel 23 Grundgesetz muss die Union die nationalen Parlamente über geplante Gesetze informieren, damit sie an der europäischen Rechtsetzung mitwirken und die mitgliedstaatlichen Interessen einbringen können. In diesem Verfahren sind nach einer wissenschaftlichen Untersuchung z. B. von Oktober 2013 bis Oktober 2016 rund 65.000 Dokumente der EU über politische Entscheidungen beim Bundestag und Bundesrat eingegangen. Das sind fast 1.900 in jedem Monat. Wie hat der Bundestag darauf reagiert? Er schickte gerade einmal 49 Stellungnahmen zur EU. Die Fülle der Informationen hat ihn offensichtlich überfordert. Als Mitspieler an der europäischen Rechtsetzung fällt er in der Praxis aus. Die gut gemeinte Verfahrensregelung des Grundgesetzes verfehlt ihren Zweck.
Wie könnte ein Ausweg aussehen?
Kirchhof: In der parlamentarischen Rechtsetzung müsste man das deutsche Parlament näher an Europa heranführen. Denkbar ist ein europäischer Ausschuss, in dem alle nationalen Parlamente unmittelbar an der europäischen Gesetzgebung mitwirken oder dort ein Veto einlegen können. Eine weitere Möglichkeit wäre es, das deutsche Mitglied im Europäischen Rat strikt an Weisungen des Bundestags zu binden. Am wichtigsten ist es aber, das deutsche Parlament schon zu Beginn eines Gesetzgebungsvorhabens in Brüssel in die Informationen und die Beratungen einzubinden, die der EU-Verwaltung zur Verfügung stehen, damit es mehr Zeit für eigene Erwägungen und nationale Stellungnahmen gewinnt. Wo der Europäische Gerichtshof Richterrecht setzt, wird erwogen, ein Kompetenzkonfliktgericht einzurichten, das ihn wieder zur Beachtung des Prinzips der Einzelermächtigung zurückführt. Mir schwebt eher vor, an seinen Entscheidungen auch die obersten Gerichte der Mitgliedstaaten mit Vortrags- und Stimmrecht zu beteiligen. Dann werden die nationalen Interessen eingebracht und der Europäische Gerichtshof darüber besser informiert.
Die Demokratie wird auch von innen bedroht. Dazu zählen legal gewählte Regierungschefs, die die Institutionen schwächen. Ein Angriffspunkt ist die Ausschaltung oder Gleischaltung der Verfassungsgerichte. Wie gut sind wir vor dieser Gefahr geschützt?
Kirchhof: Es ist erschreckend, mit welch einfachen Regeln man Verfassungsgerichte lahmlegen kann. Schreibt man z. B. im Prozessrecht vor, Verfassungsbeschwerden müssten in der Reihenfolge ihres Eingangs entschieden werden, kann man die gerichtliche Kontrolle von Gesetzen faktisch aushebeln. Das geht ganz einfach: Das Parlament beschließt ein Gesetz, das verfassungsrechtlich problematisch ist. Um dessen Kontrolle zu verhindern, werden kurz zuvor Hunderte von anderen Verfassungsbeschwerden eingereicht. Wenn das Gericht diese der Reihe nach abarbeiten muss, kann es das verfassungsfeindliche Gesetz für einen langen Zeitraum gar nicht prüfen. Das Prozessrecht des Bundesverfassungsgerichts steht in einem Bundesgesetz, nicht im Grundgesetz selbst. Dieses kann durch einfache Mehrheit im Parlament geändert werden. Hier wäre eine Verankerung im Grundgesetz hilfreich. Denn für Änderungen der Verfassung braucht man im Bundesrat und im Bundestag jeweils eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Die gewinnt man nur, indem man die Opposition mit ins Boot nimmt. Deshalb sind verfassungsrechtliche Regelungen stabiler. Sie würden die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts auf eine sichere Grundlage stellen.
»Viele Angriffe auf die Meinungsfreiheit kommen derzeit nicht vom Staat, sondern aus der Gesellschaft«
Die Demokratie lebt auch von der freien Meinungsäußerung und vom Ringen um das beste Argument. Das wird immer schwieriger, weil sich die Einstellung zu Fakten verändert hat. Das Kriterium von richtig oder falsch wird durch moralische Kriterien überlagert. Wahrheit wird so zu einer Frage der Gesinnung. Wie gefährlich ist das für die Demokratie?
Kirchhof: Meinungsfreiheit und Medienfreiheit sind in Artikel 5 Grundgesetz umfassend gegen Zugriffe des Staates geschützt. Die gegenwärtigen Angriffe auf die Meinungsfreiheit kommen jedoch gar nicht vom Staat, sondern gehen mittlerweile von der Gesellschaft selbst aus. Ein Beispiel dafür bietet die Debatte über die Atomkraft. Es gibt vernünftige Argumente dagegen und dafür. Man kann diskutieren, ob wir uns diese Energieform leisten wollen oder es lieber sein lassen. Doch die öffentliche Debatte ist aus dem Ruder gelaufen. Atomkraft wird zu einer Frage der Weltanschauung. Aus Gegnern und Befürwortern der Kernenergie werden plötzlich Feinde, die gar nicht mehr miteinander reden, Argumente austauschen und dem anderen zuhören. Diese selbstgewissen Missionare beanspruchen für ihre Meinung die absolute Wahrheit. Sie politisieren alle Themen: Kernkraft oder Windenergie, Veganer oder Fleischesser, Verbrenner oder E-Mobilität, Radfahrer oder Autofahrer. Mit ihnen geht bei uns eine sachliche und gegenüber dem Andersdenkenden respektvolle Gesprächskultur verloren. Die Meinungsfreiheit wird eingeschränkt, weil sie unbedingte Gefolgschaft einfordern und andere Meinungen als unmoralisch tabuisieren.
Wie kann das gelöst werden? Im Prinzip geht es ja um wehrhafte Demokratie.
Kirchhof: Die Grundrechte als Schutz gegen hoheitliche Eingriffe helfen hier nicht. Denn es ist ja nicht der Staat, der zensiert. Die Zensur kommt vielmehr aus der Gesellschaft selbst. Hier können wir nur hoffen, dass die Bürger sich wehren und Zivilcourage zeigen. Sie müssen einer ideologisierenden und moralisierenden Zensur durch Einzelne oder gesellschaftliche Gruppen entgegentreten. (GEA)