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Lokomotive »Paula« wird 100: Feier am Reutlinger Westbahnhof

Die Zahnrad-Dampflokomotive »Paula« hat Geburtstag. Gefeiert wird am Reutlinger Westbahnhof

FOTO: VEREIN
FOTO: VEREIN Foto: Verein
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LICHTENSTEIN/REUTLINGEN. Die Zahnrad-Dampflokomotive 97 501, von Eisenbahnfreunden liebevoll »Paula« genannt, feiert in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag. Sie repräsentiert ein Jahrhundert voller Geschichte und Innovationen. Als eine technisch besonders ausgereifte Lokomotive wurde sie 1923 in Betrieb genommen, bis heute ist sie ein beeindruckendes Beispiel für die Ingenieurskunst vergangener Zeiten. Der Verein Zahnradbahn Honau-Lichtenstein hält sie in Reutlingen funktionsfähig und setzt sie zu besonderen Anlässen vor Sonderzügen ein.

Am 6. und 7. Mai 2023 findet anlässlich dieses Geburtstags in der Werkstatt des Vereins am Reutlinger Westbahnhof ein kleines Fest statt. Eine Ausfahrt folgt voraussichtlich im Oktober.

Mit der Zahnradbahn auf die Alb

Die 97 501 wurde ursprünglich für den Einsatz auf der steilsten normalspurigen Zahnradbahn Deutschlands, am Trauf der Schwäbischen Alb gebaut. Auf knapp zwei Kilometern musste ein Höhenunterschied von 179 Metern überwunden werden, woraus sich eine für Eisenbahnen extreme Steigung von 10 Prozent ergab, also 10 Meter Höhenunterschied pro 100 Meter Streckenlänge. Herkömmliche Lokomotiven waren nicht in der Lage, Züge über eine solche Steigung vom Tal auf die Hochfläche zu befördern. Dafür brauchte es eine Lokomotive, die mit einem Zahnrad auf einer zwischen den Gleisen montierten Zahnstange die Steigung erklimmen konnte.

Die Zahnradbahn, eröffnet im Oktober 1893, war nur ein kleiner Teil der Strecke von Reutlingen über Münsingen nach Schelklingen mit Anschluss nach Ulm. Die Maschinenfabrik Esslingen, damals nicht nur der größte Arbeitgeber in Württemberg, sondern ein weltweit führender Hersteller von Fahrzeugen und Ausrüstungen für Zahnradbahnen, lieferte im Auftrag der Königlich Württembergischen Staatseisenbahnen mehrere Zahnraddampflokomotiven nach Reutlingen. Diese erhielten klangvolle Namen mit regionalem Bezug: »Achalm«, »Lichtenstein«, »Graf-eneck« und »Muensingen«.

ZAHNRADBAHN-FREUNDE

Der gemeinnützige Verein Freunde der Zahnradbahn Honau-Lichtenstein (ZHL), seit 2017 Zahnradbahn Honau – Lichtenstein e. V. (ZHL), wurde im Jahre 1985 mit dem Ziel gegründet, Fahrzeuge der ehemaligen Zahnradbahn zu erhalten und wieder in Betrieb zu nehmen sowie die einstige Zahnradbahn, ein einzigartiges technisches Kulturgut der Region, wieder aufzubauen. Dazu konnte in Reutlingen eine Werkstatt eingerichtet werden, in der neben der inzwischen betriebsfähigen »Paula« auch mehrere Schienenbusse der Zahnradbahn vorhanden sind. Eine Museumszahnradbahn könnte gemeinsam mit der Regionalstadtbahn entstehen. (eg)

Die kleinen Lokomotiven der Anfangszeit waren nach einigen Jahren mit den stetig steigenden Zuglasten überfordert. Stärkere und leistungsfähig-ere Maschinen mussten be-schafft werden. Mit dieser Aufgabe wurde der in Eningen geborene Oberingenieur Eugen Kittel betraut, der zuvor bereits maßgeblich an der Modernisierung des Fahrzeugsparks der damaligen Königlich Württembergischen Staatseisenbahnen beteiligt war. Nach seinen Vorgaben entstand eine neue Zahnraddampflokomotive, die ebenfalls bei der Maschinenfabrik Esslingen gebaut und an die damals neu entstandenen Deutschen Reichseisenbahnen, einem Vorläufer der heutigen Deutschen Bahn, ausgeliefert wurde. Insgesamt vier Lokomotiven dieser Bauart wurden gebaut, die als 97 501 bis 97 504 bezeichnet und ausschließlich auf der Strecke zwischen Reutlingen und Schelklingen eingesetzt wurden.

Höhepunkt des Lokomotivenbaus

Die Erste wurde im Jahr 1922 gebaut, durch lange Streiks während der Inflationszeit verzögerte sich die Auslieferung jedoch bis Anfang 1923. Nach umfangreichen Tests, mit denen die Erfüllung der Vorgaben überprüft wurden, wurde die Lokomotive mit der Bezeichnung 97 501 am 4. Mai 1923 für den Betrieb zugelassen. 1924 wurde sie zusammen mit einer schweren Güterzugdampflokomotive auf einer großen internationalen Eisenbahnausstellung in Seddin bei Potsdam als Höhepunkt des württembergischen Lokomotivbaus vorgestellt.

Die neuen Lokomotiven bewährten sich. Sie konnten mit dem zuschaltbaren Zahnradantrieb sowohl auf den herkömmlichen Eisenbahnstrecken als auch auf der Zahnradbahn eingesetzt werden. So wurde der Großteil der Züge von Reutlingen bis Honau, anschließend über die Zahnradbahn zur Station Lichtenstein und weiter bis Münsingen normalerweise von einer Lokomotive durchgängig befördert. Dank höherer Leistung und wirkungsvollerer Bremsen konnten längere und schwerere Züge gefahren werden.

Von besonderer Bedeutung sind auf einer Zahnradbahn die Bremsen, die aus Sicherheitsgründen mehrfach vorhanden sein müssen. So sind diese Lokomotiven außer mit der herkömmlichen Druckluftbremse mit einer sogenannten Gegendruckbremse ausgerüstet, bei der die Zylinder für den Antrieb gegen den Druck des Kessels arbeiten. Eine weitere Druckluftbremse wirkt im Notfall auf das Antriebszahnrad, außerdem gibt es mechanische Handbremsen an den Rädern sowie am zusätzlichen Bremszahnrad.

Mitte der 1950er-Jahre wurden zunehmend Dieselfahrzeuge eingesetzt, darunter die Schienenbusse, die auch den gesamten Personenverkehr zwischen Reutlingen und Schelklingen übernahmen. Mittlerweile waren nur noch drei der vier Zahnrad-Dampflokomotiven übrig. Sie wurden nur noch für die Unterstützung der Schienenbusse bei der Überwindung der Steilstrecke verwendet. Der Güterverkehr auf die Schwäbische Alb wurde gänzlich eingestellt, er hatte aber auch zuvor keine große Rolle gespielt.

Busse auf dem Zahnrad

Da der Betrieb der Dampflokomotiven im Allgemeinen und im Besonderen an der Steilrampe nicht mehr wirtschaftlich sinnvoll war, wurde über günstigere Alternativen nachgedacht. Es entstanden Zahnrad-Schienenbusse, die den gesamten Betrieb auf der Strecke von Reutlingen über Honau, Kleinengstingen, Münsingen bis nach Schelklingen ohne weitere Unterstützung übernehmen konnten. Sie gingen 1962 in Betrieb. Letztmals wurde eine Zahnrad-Dampflokomotive am 26. Mai 1962 eingesetzt. Die 97 501 wurde am 10. August 1962 ausgemustert.

Aber selbst mit den Schienenbussen blieb die Zahnradbahn nur noch wenige Jahre in Betrieb, bevor der Zugverkehr zwischen Honau und Kleinengstingen 1969 eingestellt wurde und die Gleise 1970 abgebaut wurden.Während die 97 502 von der Maschinenfabrik Esslingen erworben und als Attraktion der Firmengeschichte im Werksgelände aufgestellt wurde, hielten vorausschauende Mitarbeiter der Bahn die beiden anderen Lokomotiven in der Umgebung »versteckt«. Nur die 97 503, die zuletzt als Ersatzteilspender diente, wurde verschrottet.

Von Museum zu Museum

Nachdem die 97 502 mit dem Ende der Maschinenfabrik Esslingen 1976 in das Eisenbahnmuseum Bochum-Dahlhausen kam, blieb die 97 504 in verschiedenen Lokschuppen in der Region abgestellt, bis sie 1988 ins Deutsche Technikmuseum in Berlin gelangte.

Die 97 501 wurde schließlich 1972 am Bahnhof Münsingen als Denkmal aufgestellt. Da sich niemand um sie kümmerte und sie verfiel, wurde die Lokomotive 1975 erst nach Tübingen und im Herbst nach Reutlingen in die Obhut des Modelleisenbahnclubs gegeben wurde. Die Modellbahnfreunde legten Hand an und richteten die Maschine äußerlich wieder her.

Die damalige Deutsche Bundesbahn verkaufte dann allerdings, ohne den Modellbahnclub zu fragen, die Lokomotive an einen Fabrikanten aus Obernzell bei Passau. Auch dort gab es eine ehemalige Zahnradstrecke und der Fabrikant, ein begeisterter Eisenbahnfreund, hoffte, die Strecke mit der Dampflok wieder in Betrieb nehmen zu können. 1978 wurde die 97 501 nach Obernzell geschleppt, eine Aufarbeitung konnte jedoch nicht kurzfristig umgesetzt werden und so stand sie nun als Denkmal im Freien, wo sie abermals ungeschützt der Witterung ausgesetzt war.

Ein Original erhalten

1985 wurde der Verein Freunde der Zahnradbahn Honau-Lichtenstein mit der Vision gegründet, Original-Fahrzeuge der Zahnradbahn zu erhalten und betriebsfähig aufzuarbeiten. Auch die Strecke sollte wieder aufgebaut werden, um dort den Betrieb wie in der »guten alten Zeit« als Museumsbahn aufzunehmen.

Verhandlungen mit dem Eigentümer führten dazu, dass die 97 501 im Frühjahr 1986 wieder nach Tübingen transportiert werden konnte, diesmal auf einem Tieflader auf der Straße. Von diesem Tag an wurde die geschichtsträchtige Lokomotive in Tübingen zerlegt, alle Teile und Komponenten in Tübingen sowie in der Werkstatt des Vereins in Reutlingen aufgearbeitet und schließlich wieder zusammengebaut.

Dabei flossen auch etliche Verbesserungen hinsichtlich der Umweltverträglichkeit, der Unfallverhütung, der Wartungsfreundlichkeit und der aktuellen Sicherheitsstandards ein. Im Oktober 2012, nach langer und vielfach belächelter Aufarbeitungszeit, war es dann so weit: Die 97 501 konnte in ihr zweites Leben starten, nachdem die Aufarbeitung beendet und die Lokomotive vom Sachverständigen abgenommen war.

»Paula« ist wieder unter Dampf!

Ein aufwendiges Projekt war dank vieler Ideengeber und helfender Hände abgeschlossen. Einige Mitstreiter der ersten Stunde erlebten die Inbetriebnahme nicht mehr, einige waren vom Demontieren bis zur endgültig »letzten Schraube« mit dabei, wieder andere stießen während des steinigen Wegs dazu. Doch alle hatten eines gemeinsam: Den Glauben, die Visionen des Vereins umsetzen zu können! Möglich wurde dies durch die unermüdliche Eigenleistung der Mitglieder und dank zahlreicher Spenden, mit Unterstützung durch die Stadt Reutlingen, die über ein Gelände mit Gleisanschluss verfügt, auf dem eine Werkstatt eingerichtet werden konnte, und mit der Hilfe einiger Betriebe aus der Region, die Material und Maschinen zur Verfügung stellten sowie verschiedene Arbeiten ausführten. Insgesamt wurden etwa 30 000 Arbeitsstunden geleistet und knapp 250 000 Euro investiert.

97 501 heißt »Paula«

In der Anfangszeit hatten Dampflokomotiven vielfach einen Namen, um die Maschinen voneinander unterscheiden zu können. Das änderte sich in der Zeit um den Ersten Weltkrieg, die Lokomotiven erhielten dann nur noch Betriebsnummern, viele Maschinen erhielten aber vom Lokpersonal inoffizielle Namen. Auch in der Museumsbahn-Szene ist es das so. Die Legende besagt, dass die 97 501 nach der Wirtin einer Bahnkantine »Paula« genannt wurde. Dies führte schließlich dazu, dass sich der Verein entschied, der Lok ebenfalls diesen Namen zu geben. Im hohen Alter von beinahe 95 Jahren wurde sie am 22. April 2018 von der Reutlinger Oberbürgermeisterin Barbara Bosch und Landesverkehrsminister Winfried Hermann auf den Namen »Paula« getauft.

Seither bespannte »Paula« zur Freude vieler nostalgischer Bahnfahrer viele unterschiedliche Züge in Reutlingen, auf der Wutachtalbahn (auch Sauschwänzlebahn genannt), auf der Schwäbischen Waldbahn von Schorndorf nach Welzheim, auf der Strohgäubahn von Korntal nach Weissach und natürlich auf der beliebten Schwäbischen Alb-Bahn zwischen Engstingen, Münsingen und Schelklingen. (eg)