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Aktuell Verkehrswende

Hochschule Reutlingen: Wie klimafreundlich E-Autos wirklich sind

Die Hochschule Reutlingen hat recherchiert: Ist die E-Mobilität wirklich umweltfreundlicher?

Lokal fährt das Elektroauto CO2-emissionsfrei, global betrachtet ist entscheidend, wie der Strommix aussieht. FOTO: ARCHIV
Lokal fährt das Elektroauto CO2-emissionsfrei, global betrachtet ist entscheidend, wie der Strommix aussieht. FOTO: ARCHIV
Lokal fährt das Elektroauto CO2-emissionsfrei, global betrachtet ist entscheidend, wie der Strommix aussieht. FOTO: ARCHIV

REUTLINGEN. Überall im Land und in der Region entstehen Ladesäulen, Subventionen sollen Anreize beim Autokauf liefern: Die Bundesregierung treibt den Ausbau der E-Mobilität systematisch voran – bis 2030 sollen sieben bis zehn Millionen Elektrofahrzeuge in Deutschland zugelassen sein. Die Elektromobilität ist für Berlin ein wichtiges Mittel, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Gleichzeitig sorgen sich die Städte und ihre Bewohner, wie im Reutlinger Ledergraben, um die Luftqualität an viel befahrenen Straßen durch die Belastung mit Feinstaub und Stickstoffoxiden (NOx). Sowohl die globale als auch die lokale Problematik beleben die Diskussionen über alternative Antriebsarten. Ist die Elektromobilität der große Heilsbringer? Schlägt sie zwei Fliegen mit einer Klappe?

- Fazit

Die Technische Fakultät der Hochschule Reutlingen ist der Frage auf den Grund gegangen, wie umweltfreundlich die Elektromobilität wirklich ist – »aus Interesse am Thema«. Aus ihrer Arbeit lässt sich folgendes Fazit ableiten: Ab einer Laufleistung von 45 000 bis 75 000 Kilometern ist ein Elektrofahrzeug im Vergleich zum Benziner oder Diesel klimafreundlicher. Weiterer Vorteil: Lokal, also auch gerade an den Verkehrsbrennpunkten, verursachen Elektrofahrzeuge keine Stickstoffoxide (NOx).

- Studie

»Ich sehe meine Aufgabe nicht darin, Meinung zu machen. Sondern wir wollten schauen, wie weit man kommt, wenn man versucht, den Dingen selbst auf den Grund zu gehen. Natürlich waren wir auch auf Quellen angewiesen, aber auf solche, die technische Sachverhalte darstellen und nicht Meinungen«, betont Gerhard Gruhler, Vizepräsident des Forschungsbereichs an der Reutlinger Hochschule. Er spreche keine Empfehlungen aus. Schlussfolgerungen seien Sache der Politik oder des Verbrauchers.

Die Recherche hat der Professor und Doktor der Ingenieurwissenschaften zusammen mit dem Masterstudenten Samuel Kern in einem Semesterprojekt betrieben. »Das Thema ist komplex. Wir mussten viele Teilaspekte berücksichtigen«, erklärt der Forscher. Zu sehr vereinfachende Ansätze seien nicht sachgemäß. Der 64-Jährige ist zufrieden mit der Arbeit: »Es ist uns eine gesamtheitliche Betrachtung gelungen, bis auf die Frage des Recyclings.«

- Klima-Bilanz

Für die Aufstellung der CO2-Bilanz haben die Forscher sowohl den Kohlendioxidausstoß beim Fahren, als auch den bei der Herstellung des Autos samt Batterie herangezogen.

Zur Betriebs-Klimabilanz gehören zwei Bausteine: Zum einen die Emissionen, die bei der Gewinnung der Energie entstehen, mit denen ein Fahrzeug geladen oder betankt wird (»Well to Tank«). Für diese Berechnungen haben die Wissenschaftler diverse Statistiken und den deutschen Strommix zugrunde gelegt.

Technische Sachverhalte darstellen, nicht Meinungen: Professor Dr. Gerhard Gruhler ist Vizepräsident der Forschung an der Hochsc
Technische Sachverhalte darstellen, nicht Meinungen: Professor Dr. Gerhard Gruhler ist Vizepräsident der Forschung an der Hochschule Reutlingen. FOTO: KÜSTER
Technische Sachverhalte darstellen, nicht Meinungen: Professor Dr. Gerhard Gruhler ist Vizepräsident der Forschung an der Hochschule Reutlingen. FOTO: KÜSTER

Zum anderen geht es um die CO2- Emissionen, die lokal, bei laufendem Motor frei werden (»Tank to Wheel«). Im Gegensatz zu anderen Antriebsvarianten fährt das Elektroauto lokal praktisch völlig sauber. Großer Vorteil der E-Mobilität ist nach Gruhlers Worten auch die Rückgewinnung von Energie beim Bremsen. Insgesamt ist das Elektrofahrzeug demnach im Betrieb deutlich klimafreundlicher als andere Fahrzeuge.

- Strommix

Nach Ansicht von Gerhard Gruhler spielt es keine Rolle, ob der geladene Strom etwa aus der eigenen Fotovoltaik-Anlage stammt oder aus dem üblichen Strommix, der noch zu mehr als 50 Prozent fossilen Ursprungs ist. »Man kann zwar lokal emissionsfrei fahren, aber nicht global gesehen. Für uns zählt nur der Mittelwert.« Selbst produzierter Strom mache vielleicht ein gutes Gefühl, aber wenn die erneuerbare Energie fürs Autofahren verwendet wird, fehle der Strom an anderer Stelle. »Nur in den wenigen Stunden im Jahr, in denen wir einen Überschuss an erneuerbaren Energien haben, funktioniert das.« Allerdings: Je mehr Strom aus erneuerbaren Energien gewonnen wird und je mehr sich der Strommix verändert, desto besser wird die Klimabilanz von Elektrofahrzeugen in Zukunft sein.

- Fahrzeugherstellung

Für ihre Recherche haben die Wissenschaftler die Performances von fünf Varianten eines VW Golf verglichen: Dieses Modell gibt es betrieben mit Benzin, Diesel, Strom, Erdgas (CNG) und Autogas (LPG). Bei der Herstellung hat das Elektrofahrzeug eine deutlich schlechtere Klimabilanz. Bei der aufwendigen Batterieproduktion entstünden laut neuesten Studien 150 bis 200 Kilogramm CO2 pro Kilowattstunde (kWh). Der VW-Golf hat eine 35,8 kWh große Batterie – macht 5 300 bis 7 100 Kilogramm zusätzliches CO2. Bei der Weiterentwicklung der Produktionstechnik für Batterien sieht Gruhler künftig noch Spielraum.

Trotzdem kommen Kern und Gruhler zum Schluss, dass diese zusätzliche Belastung der Elektro-Variante bei der Herstellung durch die Einsparung im Betrieb mehr als wettgemacht werden kann: zum Beispiel bei einer Laufleistung von 15 000 Kilometern pro Jahr im Vergleich zum Diesel oder Benziner nach drei bis 4,8 Jahren. Ab diesem Zeitpunkt fahre der Elektro-VW CO2-freundlicher. Je größer – und damit Reichweiten-stärker – die Batterie wie etwa beim Tesla, desto schlechter die Bilanz.

»Fahre ich viel, wird das Elektrofahrzeug immer besser«, sagt der Hochschul-Professor. Dem Klima zuliebe sollten also konventionelle Fahrzeuge, die viel in der Stadt im Einsatz sind, durch Elektrofahrzeuge ersetzt werden: Taxis, Lieferdienste und mobile Dienstleister zum Beispiel. Spaßfahrer oder Umweltbewusste, die sich ein Elektrofahrzeug als Zweitfahrzeug zulegen und nur wenig nutzen, tun dem Klima dagegen nichts Gutes. Oder erst nach einem relativ langen Zeitraum.

Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, wie lange die Batterie hält. In der Arbeit der Hochschule wird nur eine Batterie im Lebenszyklus eines Fahrzeugs angenommen. In der Regel geben die Hersteller heute eine Garantie von acht Jahren. Noch fehlt die Erfahrung dazu; die Zukunft wird zeigen, wie lange sie tatsächlich funktionieren.

- Soziale und wirtschaftliche Aspekte

Nicht berücksichtigt sind in der Studie »nicht quantifizierbare Dinge« wie soziale oder wirtschaftliche Aspekte. Also etwa, wie sich die Verkehrswende auf die Automobilindustrie auswirkt oder unter welchen Umwelt- und Arbeitsbedingungen die Batterieherstellung oder der Rohstoffabbau erfolgt. Momentan kommen in Elektroautos, Smartphones und Laptops Lithium-Ionen-Akkus zum Einsatz. Sie enthalten Rohstoffe wie Lithium, Nickel und Kobalt, die teilweise in Ländern abgebaut werden, die von politischen Unruhen geprägt sind und wo Menschenrechtsverletzungen oder Kinderarbeit nicht immer ausgeschlossen werden können.

- Batterieentsorgung

Noch unklar ist derzeit, wie sich die Möglichkeiten für das Recycling und die Entsorgung der Batterien weiterentwickeln. »Das wird bislang nicht im großen Maßstab durchgeführt und dazu liegen noch kaum Daten vor«, sagt Gerhard Gruhler. Deshalb sei dieses Thema nicht mit eingeflossen in die Arbeit. Aus der Erfahrung mit anderen Themen schließe man aber, dass das Recycling das Ergebnis der Arbeit zwar beeinflusst, aber wahrscheinlich nicht komplett auf den Kopf stellen wird. Trotz dieses fehlenden Teilaspekts hält Gerhard Gruhler die Arbeit für »relevant« und geeignet, um sich daran zu orientieren.

- Lokale Luftverschmutzung

Neben der globalen, für das Klima relevante CO2-Emission beschäftigt Städte wie Reutlingen ein zweites, ganz lokales Verkehrsproblem: der Ausstoß von Stickoxiden (NOx) und Feinstaub. »Bei den Stickoxiden hat das Elektrofahrzeug tatsächlich Vorteile gegenüber allen anderen Fahrzeugtypen«, meint Gruhler. Durch Reifenabrieb und Aufwirbelung tragen E-Autos aber wie alle anderen Autos auch zur Feinstaubbelastung bei.

- Netzausbau

Als technische Hürde bei der massenhaften Verbreitung der Elektromobilität nennt der Ingenieur die Infrastruktur der elektrischen Versorgungsnetze in der Fläche. »Dort scheint es so zu sein, dass die Ortsnetz-Trafostationen ein Flaschenhals sind.« Bei einer Umstellung des Personenverkehrs auf Elektromobilität sei die Strommenge nicht das Problem. »Aber Tausende von Trafostationen im Netz aus- und umzubauen, ist eine richtige Herkulesaufgabe für die Energieversorger.« Ob sich die E-Mobilität letztendlich durchsetze, darüber wagt Gerhard Gruhler keine Prognose. Das sei eine Frage der politischen Entscheidungen. Seiner Ansicht nach müsse man auf jeden Fall auch die Wasserstofftechnologie im Blick behalten. »Wasserstoff hat den Riesenvorteil, dass er speicherbar ist.« (GEA)