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Aktuell Erinnerung

Samariterstift Grafeneck vor 80 Jahren für's Reich beschlagnahmt

Schloss Grafeneck: Aufgrund seiner Abgeschiedenheit und des Gleisanschlusses wurde das Heim der Samariterstiftung am 14. Oktober
Schloss Grafeneck: Aufgrund seiner Abgeschiedenheit und des Gleisanschlusses wurde das Heim der Samariterstiftung am 14. Oktober 1939 für »Zwecke des Reichs« beschlagnahmt. Die Heimbewohner mussten Grafeneck verlassen, schon im Januar 1940 wurden hier die ersten Opfer, sie stammten aus der Anstalt Eglfing-Haar bei München, in der Gaskammer ermordet. Foto: Dewald
Schloss Grafeneck: Aufgrund seiner Abgeschiedenheit und des Gleisanschlusses wurde das Heim der Samariterstiftung am 14. Oktober 1939 für »Zwecke des Reichs« beschlagnahmt. Die Heimbewohner mussten Grafeneck verlassen, schon im Januar 1940 wurden hier die ersten Opfer, sie stammten aus der Anstalt Eglfing-Haar bei München, in der Gaskammer ermordet. Foto: Dewald

GOMADINGEN-GRAFENECK. Vor 80 Jahren, am 14. Oktober 1939, wurde das Samariterstift Grafeneck von den nationalsozialistischen Machthabern für »Zwecke des Reichs« beschlagnahmt. Aus dem idyllisch gelegenen Heim für »krüppelhafte Männer«, wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß, wurde die erste Tötungsanstalt der sogenannten »NS-Euthanasie«. Hier wurden von Januar bis Dezember 1940 in einer zur Gaskammer umgebauten Remise 10 654 Frauen und Männer, die geistig behindert oder psychisch krank waren, getötet, ihre Leichen in Krematoriumsöfen verbrannt. Es war der Beginn des arbeitsteiligen industriellen Massenmords, der schon ein Jahr später in den Vernichtungslagern, unter anderen in Auschwitz und Birkenau, praktiziert wurde.

An den Krankenmord in Grafeneck wird, wie in jedem Jahr, in einem Gedenkgottesdienst am Sonntag, 20. Oktober, um 14.30 Uhr bei der Kapelle erinnert. In diesem Jahr werden Kinder und Jugendliche aus den »Heggbacher Einrichtungen« mitwirken. Sie werden die 193 Heimbewohner aus Heggbach und 72 Jungen und Mädchen aus Ingerkingen in Erinnerung rufen, die 1940 in den grauen Bussen nach Grafeneck deportiert und umgebracht wurden. Zwar nicht am Jahrestag, als eine Kommission Grafeneck für den Krankenmord ausgewählt und beschlagnahmt hat, dafür am 27. Januar 2020, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationasozialismus – am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz durch die Rote Armee befreit – haben sich die Mitglieder des Landtags von Baden-Württemberg zur Feierstunde in der Gedenkstätte Grafeneck angekündigt, informiert Thomas Stöckle. Der Historiker ist der Leiter der Gedenkstätte Grafeneck mit Dokumentationszentrum.

UNHEIMLICHE GESCHICHTE

Das Buch von Susanne C. Knittel »Unheimliche Geschichte – Grafeneck, Triest und die Politik der Holocaust-Erinnerung« ist im Transcript-Verlag in der Reihe Erinnerungskulturen erschienen und kann entweder direkt beim Verlag oder beim Buchhandel bestellt werden. Kosten: 39,99 Euro. (GEA)

In weiteren Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit den Einrichtungen, aus denen die Opfer stammten, dem Haus der Geschichte und weiteren Institutionen wird es im nächsten Jahr an verschiedenen Orten um die Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels deutscher Geschichte und um die Erinnerungskultur gehen, kündigt Stöckle an.

Deutsch-Italienischer Vergleich

Wie das Vergessen und eine Wiederholung der Geschehnisse verhindert werden sollen, die in der systematischen Massenvernichtung sozial, biologisch und »rassisch« unerwünschter Menschen gipfelten, was die ureigene historisch-politische Bildungsaufgabe von Gedenkstätten ist, hat Susanne C. Knittel anhand zweier unterschiedlicher Gedenkstätten untersucht. Inzwischen ist Susanne Knittel, die aus der Region stammt und auch für den GEA als freie Mitarbeiterin unterwegs war, Assistant Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Utrecht in den Niederlanden, wo sie an der kulturellen Erinnerung forscht. Für ihre Doktorarbeit an der Columbia Universität in New York hat sie die Gedenkstätten Grafeneck und Triest und die Politik der Holocaust-Erinnerung analysiert. Inzwischen liegt das wissenschaftliche Buch mit dem Titel »Unheimliche Geschichte – Grafeneck, Triest und die Politik der Holocaust-Erinnerung«, das dem Leser viel Geschichtswissen bietet, aber auch Konzentrationsleistung abverlangt, auch in deutscher Sprache vor.

Susanne Knittel vergleicht dabei die deutsche und die italienische Erinnerungskultur anhand der Gedenkorte Grafeneck für die Opfer der sogenannten NS-»Euthanasie« und Risiera di San Sabba in Triest, einem nationalsozialistisch-faschistischen Vernichtungslager, zu dessen Opfern Tausende jugoslawischer Partisanen, Juden und italienische Antifaschisten gehörten. Zwei Länder mit ähnlicher Geschichte, die zwei vollkommen unterschiedliche Erinnerungskulturen entwickelt hätten, die Knittel zwar vergleicht, sich einer Bewertung aber enthält, allenfalls die Mankos in den Ausstellungen beider Orte aufzeigt. Als Bindeglied zwischen den Ländern, aber auch dem »Euthanasie-Programm« und dem Holocaust dienen Knittel einige Täter, die erst in Grafeneck, ab 1943 dann in der Risiera di San Sabba Verbrechen verübten. (GEA)

GEDENKGOTTESDIENST

Im Gottesdienst an der Gedenkstätte Grafeneck am Sonntag, 20. Oktober, der um 14.30 Uhr bei der Kapelle neben dem Friedhof beginnt, wird der Opfer der sogenannten NS-»Euthanasie« von 1940 gedacht. Pfarrer Frank Wößner, Vorstandsvorsitzender der Samariterstiftung, wird begrüßen, Prälat Dr. Christian Rose aus Reutlingen die Predigt halten. Weitere Mitwirkende sind Pfarrer Siegfried Kühnle, Dapfen und der Posaunenchor Auingen. Münsingens Bürgermeister Mike Münzing, Vorsitzender des Vereins Gedenkstätte Grafeneck, wird ein Wort auf den Weg mitgeben. (GEA)