Logo
Aktuell Soziales

Sorgenetz statt Selbstaufgabe

Großer Andrang beim Hospiz-Fachtag in Eningen. Angehörige sind Träger wertvollen Lebenswissens

Fast 300 Teilnehmer kamen zum Hospiz-Fachtag, der in diesem Jahr in Eningen veranstaltet wurde.  FOTO: MEYER
Fast 300 Teilnehmer kamen zum Hospiz-Fachtag, der in diesem Jahr in Eningen veranstaltet wurde. FOTO: MEYER
Fast 300 Teilnehmer kamen zum Hospiz-Fachtag, der in diesem Jahr in Eningen veranstaltet wurde. FOTO: MEYER

ENINGEN. Das Interesse war groß: Annähernd 300 Teilnehmer kamen am Freitagnachmittag zum Hospiz-Fachtag in die HAP-Grieshaber-Halle in Eningen. Eingeladen hatten der Ambulante Hospizdienst Reutlingen, die Hospizgruppe Metzingen/Ermstal und das Hospiz Veronika in Eningen.

Gekommen waren vor allem Ehrenamtliche. Darunter eine Gruppe der Hospiz- und Sitzwache Münsingen, die viel Zeit mit Schwerkranken und Sterbenden verbringt. Der professionelle Blick von außen sei sehr erkenntnisreich, erklären die Frauen. Außerdem biete der alle zwei Jahre stattfindende Fachtag Gelegenheit, alte Bekannte, die man teils aus der Ausbildung noch kenne, wiederzutreffen.

Gekommen waren auch Fachleute wie Silvia Phelps von der DRK-Alzheimer Beratungsstelle im Kreis Reutlingen. Den Input könne sie für ihre Arbeit nutzen, erklärt sie. Außerdem gehe es darum, andere Hilfseinrichtungen mit dem Besuch deren Veranstaltungen zu unterstützen und darum, Kontakte zu knüpfen.

»Du kommst dir vor wie eine Erstklässlerin«

Aber auch Angehörige saßen in der gut gefüllten Halle. Denn schließlich hatten die Veranstalter genau sie in den Fokus genommen: »Leben bis zuletzt – Und wo bleiben die Angehörigen« lautetet der Titel. Referentin Claudia Schlenker nahm zunächst das fragile System Familie in den Blick, das bei Krankheit schnell ins Ungleichgewicht geraten könne. Nach dem Ansatz der systemischen Therapie ging sie vor allem darauf ein, wie Begleitende hilfreich wirken können.

Referent Dr. Patrick Schuchter, der eigens aus Wien angereist war, ging dann konkret auf die Situation der Angehörigen ein. »Die Not ist am größten bei Angehörigen« hat der Gesundheitswissenschaftler in Befragungen immer wieder zu hören bekommen. Und zwar vor allem bei den Formalien, wenn es etwa darum gehe, häusliche Pflege zu organisieren. »Überall musst du Zettel ausfüllen«, zitiert er eine interviewte Frau, »du kommst dir vor, wie eine Erstklässlerin.« Die einzige Stelle, an der bei seinen Studienbefragungen Tränen geflossen seien, sei beim Thema Bürokratie gewesen. »Nicht weil sie so kompliziert ist, sondern weil es so demütigend ist.« Es gehe um Fremdbestimmtheit, den Entzug von Selbstkontrolle. Heftiges Nicken und Applaus in der Halle.

Die meisten Befragten seien Frauen im Alter zwischen 55 und 60 Jahren gewesen, schiebt Schuchter ein – ein Aspekt, der in der Debatte um Gerechtigkeit beachtet werden müsse. »Da sind die Kinder gerade aus dem Haus, schon gilt es, die Eltern zu pflegen.«

Oft hätten pflegende Angehörige ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle, weil sie befürchteten, der Situation nicht gerecht zu werden. Sozialpsychologische und kulturelle Barrieren seien hier ein Hauptproblem. Betroffene Familien zögen sich im Pflegefall oft zurück, würden keine Hilfe annehmen. Das gelte auch für empfohlene Auszeiten – es sei denn, der Hausarzt verordne sie. Daher seien auch Fragen zu klären, wie »Welches Wort hat Gewicht?«.

Aus dem Blick gerate völlig der bereichernde Aspekt, von dem sich kümmernde Angehörige auch immer berichteten – intensive Zeiten, die Einblicke in das gewährten, was das Leben ausmache. »Warum kann nicht das im Vordergrund stehen?«, fragt Schuchter, der dafür plädiert, dieses Lebenswissen als Ressource für eine sich sorgende Gesellschaft zu sehen und einzusetzen.

Auf dem Weg zu diesem Perspektivenwechsel gelte es, die Individuen einer Gesellschaft nicht als autonom, sondern voneinander abhängig zu betrachten. »Care for the carers«, also Fürsorge für die sich Sorgenden, sei dabei ein wichtiger Baustein. Das könne mit dem Aufbau eines informellen Sorgenetzes gelingen, zu dem unter anderem Nachbarn zählten, die mit kleinen Beiträgen helfen könnten – mit einem freundlichen Gruß für Vertrauen sorgen, für den Erkrankten miteinkaufen, Brücken in die Gesellschaft sein.

Das sich Kümmern für andere in der Lebenskultur des Alltags zu verankern, sei ein wichtiger Schritt, lobte er die vorausgegangenen Ausführungen von Landrat Thomas Reumann. Der hatte von der Umsetzung der »Gesunden Gemeinde« in Eningen berichtet. Schuchter hält fest: »Gesundheit entsteht vor und außerhalb des Gesundheitssystems«. (GEA)