METZINGEN. Für ein paar Minuten gleicht mein Sichtfeld einem Tunnel. Das liegt daran, dass links und rechts Weinreben wachsen und ich dazwischen stehe. Doch ich verweile nicht etwa gemütlich und genieße den Blick über die sanften Hügel des Ermstals und den Metzinger Stadtteil Neuhausen. Stattdessen stehe ich extrem breitbeinig zwischen den Rebstöcken. So, als würde ich sagen: An mir kommt niemand vorbei. Dafür gibt es an diesem Samstagmittag gegen halb eins gar keinen Grund. Denn der Wengerter Heinz Reusch arbeitet hinter mir und muss nicht vorbei.
Es ist Weinlese oberhalb von Neuhausen. Oder genauer gesagt: Familie Reusch, deren Freunde und ich lesen Silvaner-Trauben. Und nicht nur wir arbeiten zwischen Reben. Viele Wengerter schneiden Trauben. Andere bringen sie in große, grüne Bottiche, die auf Auto- oder Traktoranhängern stehen. Genau das ist meine Aufgabe: Ich hole von Heinz, seiner Ehefrau Lilli Reusch, deren Sohn Thilo, dessen Frau Christine (Tine) Reusch und anderen Helfern Trauben und bringe diese zum Traktoranhänger. Doch das hat Tücken.
Zunächst nehme ich beim 68-jährigen Heinz Reusch, der mir sofort das Du angeboten hat, Ladung auf. Für mich heißt das: Breitbeinig stehen, die Bauchmuskeln anspannen und den Rücken aufrichten. Heinz leert seinen Eimer mit den gelesenen Trauben in den Butten. Das Metallgefäß ist damit aber nicht voll. Nun ist Tine dran. Sie kippt ihre Trauben in den Butten und sagt dann: »Du bist voll.« Das ist gerade am Anfang wichtig für mich, denn ich sehe ja hinter mir nichts. Am Anfang fühlt sich der gefüllte Butten immer schwer an. Mit 50 Kilogramm Trauben auf dem Rücken gehe ich vorsichtig zum Anhänger, der neben dem Weg steht.
Dass ich beim Weinlesen helfe, hat zwei Gründe. Mich interessiert, wie Wein gelesen wird. Und ich möchte tiefer in die Materie eintauchen und die anstrengende Arbeit der Wengerter erleben.
Das tue ich auch. Ich bemerke das Gewicht, kann aber doch gut damit laufen. Auch, wenn ich nun mit Trauben für ein paar Minuten 130 statt 80 Kilo schwer bin. Ich muss nur aufpassen, wo ich hintrete. Denn der Boden zwischen den Weinstöcken ist uneben. Wir haben eine Stunde später als geplant mit der Lese begonnen. »Es hat in der Nacht jesusmäßig geregnet. Wir mussten warten«, sagt Heinz. Sonst, sagt seine Frau Lilli, hätte der Wein Aromastoffe eingebüßt.
»Du gehst hoch, greifst an den Bottichrand und wirfst die Trauben über die Schulter ab«
»Bist Du schwindelfrei«, hatte Heinz mich am Anfang gefragt. Das bin ich. Die paar Stufen auf den Anhänger zum Abkippen der Trauben sind für mich kein Problem. Außerdem motiviert mich, dass ich danach wieder mein Normalgewicht erreiche. »Du gehst hoch, greifst an den Rand und wirfst über die Schulter ab«, hatte Heinz es mir erklärt. Ich drücke den Butten rechts am Kopf vorbei, höre ein Kullern und sehe kiloweise Trauben an meinem Kopf vorbei rollen. Fertig. Doch diese Arbeit wird mit der Zeit schwerer.
»In den Bottich passen 850 Kilo Trauben«, erklärt Heinz. Seine Frau Lilli ergänzt, dass dieser Weinberg mit sechs Reihen und sechs Ar Fläche ihr kleinster ist. Mich freut, dass er keine Steillage hat. Dort zu arbeiten, wäre deutlich anstrengender. Insgesamt bewirtschaften Lilli und Heinz 35 Ar Weinberge im Nebenerwerb. Heinz war hauptberuflich Elektriker und ist nun Rentner. Lilli war jahrelang Ortsvorsteherin in Neuhausen. Den Weinberg, in dem wir arbeiten, hat schon Heinz Reuschs Eltern gehört.
Auf dem Rückweg fühle ich mich herrlich leicht. Schließlich ist der Butten nun für ein paar Minuten leer. Ich gehe die Reihen ab und schaue in die Eimer. »Du hast eine ganz andere Haltung«, sagt Heinz. Vorher sei es für sie schwieriger gewesen, den Butten zu treffen. Jetzt ist es einfacher, weil mein Oberkörper aufrechter ist, wenn ich zum Laden in die Hocke gehe.
Dafür habe ich Probleme beim Abwerfen. Denn dann setzt der Butten auf dem Traubenberg auf und lässt sich kaum leeren. Als ich so eine Leiterstufe hinunter gehe, rutscht die Leiter vom Wagen. Thilo stellt sie wieder auf und gibt mir einen Tipp: Höher steigen.
Als wir nach der Lese bei roter Wurst zusammensitzen, holt Heinz eine Flasche Silvaner heraus. »Jetzt musst Du den Wein probieren, für den wir die Trauben geerntet haben.« Er schenkt mir ein. Der Wein schmeckt. Er hat Pfirsicharoma.
Nach der Pause lässt Heinz den grünen Traktor an und fährt die Trauben hinunter zur Kelter. Vor dem Gebäude stehen Wengerter mit ihren Fahrzeugen Schlange. Heinz’ Sohn Thilo lädt einen Anhänger nach dem nächsten ab und leert die Trauben in einen Schacht. Dort werden sie später gepresst und der Saft von einem Tankwagen abgeholt. Heinz bekommt einen Ausdruck: 815 Kilo Trauben und 87 Grad Oechsle. Darunter verstehen Wengerter den Zuckergehalt im Traubensaft. »Das ist gut«, sagt er. Das hatte er vor der Lese mit dem Refraktometer gemessen.
»Du hast genau gesehen, wann ein Eimer voll ist und Deinen Rhythmus gefunden«
Zurück im Weinberg interessiert mich, wie ich mich als Buttenträger gemacht habe. Die Antwort gibt Tine: »Super!« Heinz ergänzt: »Du hast genau gesehen, wenn ein Eimer voll wird und hast Deinen Rhythmus des Abholens gefunden.« Ich könne gerne auch 2020 helfen.
Wie erwartet, spüre ich die Weinlese am nächsten Tag. Mir tut die rechte Schulter weh, und ich habe ein leichtes Ziehen in den Oberschenkeln – mehr nicht. Ganz gut, für 750 Kilo Traubenschleppen. Ich würde es wieder machen. (GEA)