TÜBINGEN. Bereits 1976 beschreibt und bewertet Joe Hembus’ Western-Lexikon 1 272 Western. Das meiste davon Dutzendware, bisweilen schierer Schrott, dann aber auch Meisterwerke von Shakespearscher Tiefe und Wucht wie John Fords »The Searchers« oder Sam Peckinpahs »The Wild Bunch«. Einige hundert Filme mehr sind inzwischen dazugekommen. Tarantino und vor allem den Coen Brothers ist in jüngerer Zeit dabei Herausragendes gelungen – und jetzt dem LTT?
Vorweg: Auf die Theaterbühne hat es der Western so gut wie nie geschafft, nicht nur weil Pferde dort eher komisch wirkten, sondern weil drei Wesentlichkeiten kaum theatertauglich sind: Erstens die unabdingbare Weite der Landschaft, die für den Menschen trotz aller Mühen stets zu groß und übermächtig scheint. Zweitens die Lakonie der Sprache fern eines die Handlung forttreibenden Dialogs. Drittens der Westernheld, Protagonist eines Epos, verwandt keinem dramatischen Charakter, sondern den archetypischen Helden des Homer oder dem Samurai Kurosawas.
Was also tun, wenn es einen triezt, unbedingt doch den Western auf die Bühne zu zwingen? Es bleibt nur die Flucht in den Schwank, das Lustspiel, die Parodie: Trashig-unernstes Sommertheater also – warum nicht?
Ordnungsfetischistischer Sheriff
Regisseur und Autor Dominik Günther ist in »Fünf vor High Noon«, das am Donnerstagabend auf dem Bahnbetriebswerk am Tübinger Festplatz Premiere hatte (gespielt wird dort bis zum 7. August), manches gelungen, Lokalkolorit etwa: In Tü City am Rio Neckar wird Rad gefahren, gibt es Dr. Federles Zaubertrank und einen ordnungsfetischistischen Sheriff, der auch kleine Störungen drakonisch ahndet. Die von Co-Autorin Sandra Fox mit nützlich-witzigen Artefakten eingerichtete Bühne ermöglicht dem gut aufgelegten Ensemble sein engagiertes Spiel. Schaukelpferdchen gibt’s, ein Friedhöfchen, einen Galgen, einen transportablen Sarg. Die zahlreichen Musik- und Tanznummern, bei denen sängerisch Franziska Beyer als Saloon-Besitzerin Thelma herausragt, treffen auf den zu zwei Dritteln gefüllten Rängen auf ein freundlich geneigtes Publikum.
Und welche Geschichte wird verhandelt? Die Stadtoligarchie aus Sheriff und Rancherin hat irgendwie mit der Eisenbahngesellschaft gedealt, die Fortschritt und Gold bringen soll. Die Eisenbahn kommt schließlich nicht, das Gold schon, wird aber von einer Gang geraubt – drei Motorräder tauchen überraschend auf und brausen leicht röhrend davon.
Die Macht in Tü City geht an die Jugend und die anders als der Sheriff vernünftig klug für Ordnung sorgende Saloonbesitzerin über. Tü City wird abseits von Stugi Boogie Benz Town und Gentlemen City in eine ökologische Zukunft aufbrechen mit stacheldrahtfreier Rinderranch. Eine politisch korrekte, woke Note unterstreicht überdies, dass die starken Figuren, anders als im Genre üblich, die Frauen sind. Dem friedenstiftenden weiblichen (Z)Orro, der den Bösen kein Z, sondern ein O aufs Hinterteil peitscht, kommt gar eine Deus-ex-machina-Funktion zu, die das Ganze nach zweieinhalb Stunden zu einem Abschluss bringt.
Unvermittelt aufgetischt
Und dieser Helfer wird leider in der Tat gebraucht, weil Dominik Günther sich als Autor in eine Notsituation vergaloppiert hat. Denn die Handlung treibt weder handlungsstringent noch pointensicher fort, sondern das Worumwillen seines Westerns wird in den letzten Minuten der Aufführung noch irgendwie plötzlich angeklatscht, schlicht behauptet, unvermittelt aufgetischt. Das liegt daran, dass er den ganzen Abend über eine klischeeartige Westernszene an die andere reiht – Desperados kommen in die Stadt, es wird gepokert, der Totengräber hofft auf Kundschaft – aber, man muss es so sagen, nichts erzählt.
Ähnliches gilt für die Tanz-, Gesangs- und Musiknummern. Sie machen den Schwank weder operettenhaft noch zum Musical, weil sie die ohnehin im Grunde abwesende Geschichte kaum befördern oder kommentieren, sondern eigene, dem reinen Amüsement dienende Zwischenspiele sind, so wie mancher Monolog, der nicht einer Handlung, sondern einer ensembledemokratischen Idee geschuldet scheint, nach der jede und jeder ihren und seinen Soloauftritt bekommt, den besonders Katja Uffelmann, die erst wenige Tage vor der Premiere einsprang, als Ranchbesitzerin Lady Widefield nicht nur in den tänzerischen Szenen überzeugend zu nutzen weiß.
Manche Pointen zünden, der Totengräber erläutert seine Berufswahl – er wollte immer was mit Menschen machen –, manche einigermaßen – er sei nicht Der-An-Der-Theke, sondern Der-Un-Der-Taker – und nicht wenige Pointen zünden gar nicht wie das unvermeidliche, aber etwas bemüht albern gestaltete Duell.
Als Vorbild hatte das LTT Sergio Leone genannt, und der Titel spielt plakativ auf den Westernklassiker »High Noon« an. Zwischen beiden Arten von Western liegen freilich Welten, ästhetisch und inhaltlich. Dies gelingend zusammenzuführen – eine kaum zu leistende Aufgabe. Es wurde denn erst auch gar nicht unternommen. Der Titel »Fünf vor High Noon« ist keine inhaltlich belegte oder belastbare Anspielung, sondern nur kalauerndes Wortspiel. Und von Leones Ästhetik findet sich nichts. Es rächt sich, dass Dominik Günther die Western, die ja in sich geschlossene Erzählungen sind, als bloße Steinbrüche versteht, aus denen man Blöcke herausreißen kann, er aber nicht weiß, wie diese wieder zu einem Ganzen zusammengefügt werden könnten. Sein Western bleibt Stückwerk.
Nach zwei Stunden dreißig: aufmunternder Applaus. (GEA)