TÜBINGEN/KUSTERDINGEN. Vor drei Jahren hat Pavel Hoffmann eine Rede auf dem Tübinger Holzmarkt gehalten. Damals sei ein Mann mit arabischen Wurzeln zu ihm gekommen und habe gesagt: »Alle Juden werden begraben und du auch.« Hoffmann war als Zweijähriger ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert worden, er überlebte. Seine jüdische Familie nicht. Den Vater erschossen die Nationalsozialisten, die Großeltern starben in Gaskammern, die Asche seiner Mutter landete in einem Pappkarton und dann im Fluss Eger. Am Donnerstag hielt Hoffmann wieder eine Rede in Tübingen. Rund 100 Menschen hatten sich zum jüdischen Holocaustgedenktag Jom haSchoa auf dem Marktplatz versammelt. Dort erinnerten sie an sechs Millionen Juden, die im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden.
Für Pavel Hoffmann sind die Verbrechen der Nationalsozialisten an den Juden längst nicht aufgearbeitet. Judenfeindlichkeit und Israelfeindlichkeit sind für ihn deckungsgleich. »Heute ist Israel der neue Jude. In die Herzen der Deutschen haben es nur die sechs Millionen Toten geschafft. Das war aber kein Mitleid mit den Juden, nur die Scham«, sagt er. Die wehrhaften Juden würden heute genauso gehasst wie damals die Juden in der Diaspora. Hoffmann: »Im Unterschied zu damals nennen sich heutige Antisemiten Israelkritiker und Antizionisten.«
Der Veranstaltung in Tübingen war ein sogenannter »Marsch des Lebens« vorausgegangen. Der gleichnamige Verein war auch Veranstalter. Rund 40 Menschen liefen dabei – wegen Corona in Zweiergruppen und mit jeweils 100 Metern Abstand – vom Wankheimer Rathaus nach Tübingen. »Gemeinsam für eine bessere Zukunft ohne Antisemitismus und Judenhass« und »In Erinnerung an sechs Millionen Namen« stand auf ihren Schildern.
Wurzeln auf den Härten
Auf ihrem Weg passierten sie den jüdischen Friedhof, eine Unterführung, die jüdische Zwangsarbeiter hatten bauen müssen, und den Tübinger Synagogenplatz. Wankheim war deshalb Startpunkt, weil die Wurzeln der einstigen jüdischen Gemeinde Tübingens in dem Ort auf den Härten liegen. Im 18. Jahrhundert siedelten sich dort die ersten Familien gegen Schutzgeldzahlungen an, bevor Juden in den Städten wieder das Bürgerrecht bekamen.
Einen solchen Marsch des Lebens gab es am Donnerstag nicht nur von Wankheim nach Tübingen. Nach Angaben der Organisatoren fanden Veranstaltungen in 90 weiteren Städten weltweit statt, geplant waren beispielsweise Märsche in Berlin, Argentinien, Polen und den USA. Der erste Marsch hatte 2007 von Bisingen nach Dachau geführt. Der Theologe Jobst Bittner hatte die Bewegung ins Leben gerufen, die inzwischen jährlich zu Jom haSchoa zum Erinnern aufruft. Bittner ist auch Gründer der TOS-Gemeinde Tübingen (ehemals Tübinger Offensive Stadtmission). Bei den weltweiten Veranstaltungen kooperieren verschiedene christliche Glaubensgruppen und jüdische Gemeinden, der Verein will mit den Märschen vor allem Christen dazu aufrufen, sich dem Gedenken anzuschließen.
Auch Gründer Bittner selbst sprach bei der Abschlusskundgebung in Tübingen ins direkt vor der TOS-Buchhandlung »Jesus live« aufgebaute Mikrofon. »Ich frage mich, warum der Spuk des Antisemitismus in Deutschland noch nicht vertrieben werden konnte«, sagt er. Antisemitismus gewinne ungebremst an Fahrt und sei etwa in Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus tief verwurzelt in der Gesellschaft. »Taucht die nationalsozialistische Rassenideologie, die unbarmherzig all diejenigen an den Rand der Gesellschaft drückte, die mit ihrer faschistischen Weltanschauung nicht gleichgeschaltet waren, heute in moderner Form als Cancel Culture und Identiätspolitik wieder auf?«, fragt sich Bittner.
Während die einen marschierten, lasen andere Teilnehmer des Gedenktags auf dem Tübinger Marktplatz Namen vor: Es waren die Namen jener Juden, die aus Württemberg und Hohenzollern deportiert und ermordet wurden. Das sollte Gedenken und Trauer ermöglichen – die Nationalsozialisten hatten ihren Opfern die Namen einst genommen und durch Nummern ersetzt. Drei Stunden dauerte das Vorlesen. 2.900 Namen fielen. (GEA)