TÜBINGEN. Heute Nachmittag wird vor der Jugendkammer des Tübinger Landgerichts das Urteil gegen den 20-jährigen Syrer verkündet, der im vergangenen November in Mössingen-Belsen seinen Schwager erstochen hat. In ihren Plädoyers gestern Nachmittag forderten die Staatsanwaltschaft zehn Jahre, die Verteidigung vier Jahre Haft.
Gestern Vormittag beschrieb Rechtsmediziner Matthias Marx, dass dem Opfer mit einer zehn Zentimeter langen Messer-klinge vier Mal schnell hintereinander und mit Wucht in den linken Brustbereich gestochen wurde. Die Stiche lagen eng beieinander. Der dritte Stich durchstieß zwei Rippen, traf Herzbeutel, die rechte Herzkammer sowie das Zwerchfell und drang leicht in den Bauchraum ein. Dieser Stich führte zum Tod durch Verbluten und einen kardialen Schock.
Anschließend verlas der Tübinger Jugendhelfer Philipp Wieland die Einschätzungen seines Kieler Kollegen. Der Angeklagte sei in vielen Bereichen noch nicht reif genug und sei daher noch einem Jugendlichen gleichzustellen. Er bedürfe einer längeren therapeutischen Behandlung.
Am Nachmittag eröffnete Staatsanwältin Kaia Seiler die Runde der Plädoyers. Immer wieder habe die unmittelbar vor der Tat ausgesprochene Drohung des Opfers, er werde seine Frau, die Schwester des Angeklagten, töten, eine Rolle gespielt. Das Geständnis des Angeklagten decke sich mit den Ermittlungen. Sie halte die Tat für relativ spontan.
Es habe allerdings keine Anzeichen einer körperlichen Auseinandersetzung unmittelbar vor der Tat gegeben. Sie glaube dem Angeklagten nicht, dass er sein Opfer nur verletzen wollte, er habe die Mordwaffe mitgeführt und das Überraschungsmoment ausgenutzt, als das Opfer wehrlos gewesen sei. Dies wertete sie als heimtückischen Mord, als schwere Schuld über Normalmaß hinaus und forderte dann die Maximalstrafe von zehn Jahren Haft.
Fozia Hamida-Bhatti, die Vertreterin der Nebenkläger, schloss sich dieser Forderung an. Sie vertrete die weiteren Opfer der Tat, darunter die vier Kinder des Getöteten, denen gesagt worden sei, dass ihr Vater nicht mehr zurückkomme. Der Angeklagte habe sich entschuldigt, aber eine Entschuldigung setze mehr voraus, als für sich selbst Ballast abwerfen zu wollen.
»Vier Jahre tun’s auch«
Verteidiger Hans-Christoph Geprägs zeichnete das Bild einer wohlhabenden Familie in Syrien, der nach dem gewaltsamen Tod des Vaters alles genommen wurde. Er forderte für den Angeklagten eine sozialtherapeutische Maßnahme, damit dieser nach der Haft wieder im Leben stehen könne.
Verteidiger Stefan Holoch beschrieb den Angeklagten als spätpubertierenden Burschen, dem mit dem Urteil ein Weg aufgezeichnet werden müsse. Das Opfer sei ein Sadist gegenüber seiner Frau gewesen. Das müsse man berücksichtigen, denn sie sei »die einzige Stütze« des Angeklagten gewesen. Für die Höchststrafe fehle ihm jegliches Verständnis: »Vier Jahre tun’s auch.«
In seinem letzten Wort sagte der Angeklagte, er benötige noch Zeit, um über die Tat nachzudenken. Er habe in der Verhandlung stets die Wahrheit gesagt. Er beschrieb die Schwierigkeiten, innerhalb der Familie Schwäche zu zeigen, selbst wenn man in Problemen stecke. So habe seine Schwester keine Möglichkeit gesehen, ihrem nächstälteren Bruder die eigenen ehelichen Probleme zu offenbaren. Dieser kämpfte im Zuschauerraum mit den Tränen.
Der Angeklagte stellte noch einmal seine Sicht auf die Ereignisse des Tattags dar. Seine Schwester habe niemanden an ihrer Seite gehabt, dem sie sich hätte anvertrauen können.
Er habe Angst gehabt, ein weiteres Familienmitglied zu verlieren. Der Gedanke zur Tat sei ihm in jenem Moment gekommen, als er neben dem Opfer auf der Couch der Wohnung saß. Er leide unter der Tat. (GEA)