STUTTGART. Mit einem Traumwahlergebnis von 100 Prozent – das erreichte nicht einmal Erich Honecker – wählten die Mitglieder des neu gegründeten Landesverbands Baden-Württemberg des »Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit« (BSW) die Reutlingerin Jessica Tatti zu ihrer Landesvorsitzenden.
Allerdings waren im altehrwürdigen Bad Cannstatter Kursaal nur 54 von derzeit 60 Mitgliedern anwesend. Denn die neue Partei nimmt derzeit nur begrenzt und nur nach persönlichen Gesprächen Mitglieder auf. Das Prozedere ist, dass der Bundesvorstand die Mitglieder auf Vorschlag der Landesbeauftragten aufnimmt. Und diese Landesbauftragte ist Jessica Tatti. Viele der Mitglieder waren zuvor bereits in den Kreisen der nach Parteiangaben 2.200 Unterstützer unterwegs und haben für die Partei Europawahlkampf gemacht. Nach Angaben von Tatti seien etwa die Hälfte der Mitglieder ehemalige Weggefährten aus der Linkspartei. Nach ihren Angaben hat die Partei derzeit ungefähr 20 Mitglieder im Raum Reutlingen-Tübingen, was ein Drittel der Mitglieder in Baden-Württemberg wäre. Wichtig sei ihr jedoch, dass die neue Partei nicht die »Linkspartei 2.0« werde, sondern neue Akzente setze. Deshalb sei ihr auch wichtig, mit Manfred Hentz, der 94,4 Prozent erhielt, einen Co-Landesvorsitzenden zu haben, der nicht in der Linkspartei gewesen sei.
Wachsen, um nicht exklusiver Zirkel zu sein
»Wir fallen als neue Partei in das Beuteschema der Karrieristen, Glücksritter und Postenjäger«, begründete Thomas Geisel auf dem Parteitag das Verfahren des kontrollierten Wachstums, mahnte jedoch zugleich an, dass man wachsen müsse, um nicht »ein exklusiver Zirkel« zu sein. Beim BSW sei Platz für Menschen aus der Linken und aus der SPD – aber auch für Konservative, »die mit dem woken Zeitgeist nichts anfangen können«, so der Europaabgeordnete. Geisel sah in der Partei bereits auf dem Weg zur Volkspartei.
Tatti begründete in ihrer Eröffnungsrede die Parteigründung mit einer Repräsentationslücke im deutschen Parteiensystem. »Seit Corona ist es ja zu einer regelrechten Masche geworden, dass man jeden an den Pranger stellt, der eine andere Meinung vertritt«, beklagte Tatti. »Menschen haben Impfschäden und diesen Gesundheitsminister schert es nicht«, kritisierte Tatti.
Nato ist Russland überlegen
Sie kritisierte auch die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland sowie die Aufrüstungspolitik. »Es gibt keine Fähigkeitslücke beim Militär. Die Nato ist Russland – bei Luft- und Seestreitkräften – deutlich überlegen«, sagte sie und berief sich auf den Bundeswehr-Oberst a. D. Wolfgang Richter. Die Raketen würden das nukleare Risiko erhöhen. 81 Prozent der jungen Leute hätten jetzt schon Angst vor einem Krieg. Diese Sorgen müsse man ernst nehmen. Zur AfD sagte Tatti, dass angesichts der Fehlleistungen der Ampel nicht die AfD die Gefahr für Deutschland sei, sondern die Ampel. Statt die eigene Politik zu hinterfragen, wolle die Ampel lieber politische Gegner verbieten lassen, kritisierte Tatti die Debatte über das AfD-Verbot.
Auf Nachfrage konkretisierte Tatti das Angebot an ehemalige AfD-Wähler: »Selbstverständlich haben wir den Anspruch, dass AfD-Wähler wieder eine andere Partei wählen«. Auch würde sie »auf keinen Fall ausschließen«, dass ehemalige AfD-Mitglieder Mitglied im BSW werden. Die Aufnahme in die Partei sei allerdings »im Moment noch« ohnehin eine »Einzelfallentscheidung«. In der Industriepolitik kritisierte Tatti das Verbrenner-Aus und die einseitige Festlegung auf die E-Mobilität: »Dieser Fehler kann Wohlstand und Hunderttausende Arbeitsplätze vernichten und droht weltweit führendes Know-how unserer einheimischen Industrie zu zerstören«. In der Wirtschaftspolitik berief sich Tatti auf den Tübinger Unternehmer und IHK-Präsidenten Christian Erbe, der gesagt habe, dass die Politik zum Risiko für die Wirtschaft werde.
100 Milliarden für den sozialen Wohnungsbau
Die Bundestagsabgeordnete und neue Landesvorsitzende forderte auch, über die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften 100 Milliarden in den sozialen Wohnungsbau zu stecken, statt in die Rüstung zu investieren. Sie trat außerdem, wie auch Geisel für eine Begrenzung der Migration ein. Beide sagten jedoch, dass sie das Recht auf Asyl für die wirklich Schutzbedürftigen nicht abschaffen wollen. Hier verwies Tatti auf eine SWR-Umfrage, dass 75 Prozent der Deutschen für eine stärkere Steuerung der Migration seien und meinte, dass doch nicht drei Viertel der Deutschen rechtsradikal sein könnten.
Jessica Tatti bestätigte dem GEA auf Nachfrage, dass sie sich auch in ihrer neuen Partei immer noch als Sozialpolitikerin sieht. Sie wolle eine Rentenreform nach dem österreichischen Modell, in dem auch Beamte und Selbstständige einzahlen. Einer Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro und einer Erhöhung der Renten würde sie im Bundestag zustimmen, sagt Tatti. Sie sei außerdem für eine Vermögenssteuer: »Das ist keine Neiddebatte sondern eine Finanzierungsfrage. Wen sollen wir denn sonst besteuern, wenn nicht die Vermögenden?« Nichts hält Tatti von der Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form.
Fünf Prozent bei Umfragen
»Wir müssen in Bildung und Infrastruktur investieren können und deshalb die Schuldenbremse anpassen«, sagte sie. Nicht festlegen und auch nichts ausschließen will Tatti bei der Frage, ob ihre Partei nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg bereit sei, Koalitionen einzugehen. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest Dimap kam das BSW jüngst im Land auf fünf Prozent. »Jetzt müssen wir zunächst abwarten, wie die Sondierungen in den östlichen Bundesländern ausgehen und die Landtagswahl in Baden-Württemberg ist ja erst 2026«, sagte Tatti. Auf Nachfrage sah sie »Schwierigkeiten« darin, mit den »Grünen in ihrer jetzigen Ausrichtung« zu koalieren. (GEA)