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Aktuell Kriminalität

Mitmachen, zuschauen, wegschauen: Frauen, die Kinder missbrauchen

Sexuelle Gewalt gegen Kinder empört die Öffentlichkeit ganz besonders. Meistens begehen Männer diese Verbrechen. Dass auch Frauen missbrauchen, ist in der Forschung zwar lange bekannt. Gesellschaftlich gerät es erst allmählich in den Fokus.

Sexueller Missbrauch.
Foto: Deutsche Presse Agentur
Foto: Deutsche Presse Agentur

KARLSRUHE. Die Mutter eines kleinen Jungen aus Staufen bei Freiburg hat es getan. Die Mutter einer Zwölfjährigen aus Cottbus hat es getan. Die Mutter eines Kleinkindes aus dem Landkreis Reutlingen hat es auch getan. Einer Erzieherin aus dem Landkreis Karlsruhe wird es derzeit vorgeworfen. Frauen, die Kinder - oft die eigenen - selbst sexuell missbrauchen oder dabei helfen: Es gibt sie. Sie tun Kindern aktiv sexuelle Gewalt an, sie unterstützen ihren Partner dabei, sie fertigen Videos an, sie fordern das Kind zum Mitmachen auf, reden ihm gut zu, bereiten es vor auf die Taten. Sie schauen zu. Oder sie schauen einfach weg.

»Landläufig besteht die Vorstellung, dass der Sexualstraftäter ein Mann sein muss. Das stimmt zwar überwiegend, aber nicht in dieser Ausschließlichkeit«, sagt Jörg Kinzig, Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität Tübingen. Frauen missbrauchten sehr wohl. Ihre Motive sind Einschätzungen von Experten zufolge jedoch nicht immer die gleichen. So fand Ulrike Hunger in ihrer 2019 an der Universität Tübingen veröffentlichten Dissertation heraus, dass Frauen Missbrauchstaten oft mit einer anderen Person begehen - etwa mit dem Partner und ihm zuliebe. Aus Angst, den Mann zu verlieren, lassen sie Übergriffe auf das Kind zu. Weil sie emotional abhängig sind vom Haupttäter lassen sie ihn gewähren. Frauentypisch dabei: Etwa Taten ohne Körperkontakt - also Auffordern des Opfers, Bestimmen, was es tun muss oder einfach Nichtstun.

In rund 65 Prozent der von Hunger untersuchten Fälle begingen Frauen die Taten nicht alleine, sondern mit einer anderen Person, fast immer zusammen mit einem Mann. Hunger hatte für ihre Arbeit unter anderem 164 Akten über verurteilte weibliche und - zum Vergleich - männliche Sexualstraftäter in Bayern und Baden-Württemberg gewälzt. »Wenn eine Frau beispielsweise persönlichkeitsbedingt große Angst vor dem Verlassenwerden hat, dann ist sie durch einen Partner leichter manipulierbar und eher bereit, Schäden für ihr Kind in Kauf zu nehmen beziehungsweise diese vor sich selbst herunterzuspielen«, erläutert Professor Klaus Beier, Leiter des Berliner Netzwerks »Kein Täter werden«, das sich an Menschen mit pädophiler Neigung richtet.

Pädophilie bei Frauen, also die sexuelle Fixierung auf Kinder, ist dabei extrem selten, so die Erfahrung Beiers: Im Laufe der 15 Jahre seit Gründung des Präventionsnetzwerkes mit inzwischen elf Standorten hätten sich in Berlin etwa 3000 Männer gemeldet - aber nur 36 Frauen. Von den Männern wurden schließlich 1200 diagnostisch erfasst und bei einem Großteil wurde die pädophile Neigung festgestellt. Bei den Frauen ließen sich 23 erfassen. Nur bei zwei der Ratsuchenden allerdings sei auch eine pädophile Veranlagung entdeckt worden.

Gibt es pädophile Frauen also so gut wie nicht? Die Datenlage ist unklar. »Wir wissen bisher nicht, wie viele Frauen ein sexuelles Interesse an Kindern haben und ob dieses ähnlich geartet ist wie bei Männern«, sagt Safiye Tozdan. Sie forscht am Universitätsklinikum Hamburg und erhebt aktuell Daten im Rahmen einer anonymen Online-Befragung für Frauen mit sexuellem Interesse an Kindern. Ergebnisse gibt es noch nicht.

Allerdings liegt ohnehin längst nicht jedem sexuellen Übergriff auf Kinder eine pädophile Neigung zugrunde. Im Gegenteil - Forscher wie Beier gehen davon aus, dass 60 Prozent der Taten, verübt vor allem von Männern, sogenannte Ersatzhandlungen sind, also von ganz anderen Motiven als denen eines ausschließlichen sexuellen Interesses an Kindern geleitet sind. Das Bedürfnis, Macht auszuüben könnte dabei eine Rolle spielen ebenso wie eigene Missbrauchserfahrungen in der Kindheit. Oder schlicht die Tatsache, auf Kinder auszuweichen, weil Sexualität mit einer erwachsenen Person nicht möglich ist.

Insgesamt bezifferte die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2019 beim sexuellen Kindesmissbrauch den Anteil weiblicher Tatverdächtiger auf 627 Personen. Das entspricht 6,1 Prozent der 10 259 mutmaßlichen Täter. »Freilich sind das nur sogenannte Hellfelddaten«, sagt Kinzig. »Wie das im Dunkelfeld aussieht, ist unklar.« Tozdan geht von einer massiven Unterschätzung der Dunkelziffer auch für Täterinnen aus.

Die Forschung dazu steht noch am Anfang, sagt sie. Der Zwischenbericht der Aufarbeitungskommission Kindesmissbrauch aus dem Jahr 2017 hielt zwar fest, dass Frauen »vorwiegend als Mitwissende und damit als Unterstützende der Taten« auftreten. Aber Frauen können auch Einzeltäterinnen sein, heißt es.

Die Untersuchung von Hunger zu den bereits Verurteilten etwa ergab, dass 35 Prozent der Frauen allein handelten - weil sie bei dem Kind beziehungsweise dem Minderjährigen Nähe und Wärme suchten oder etwa von einer Liebesbeziehung zwischen sich und dem Opfer ausgingen. »Dass Frauen Kinder nur missbrauchen, wenn sie von einem Mann dazu gezwungen werden, kann also definitiv nicht angenommen werden«, sagt auch Tozdan.

»Generell dürfte die Auffassung weit verbreitet sein, dass Mutterschaft schon ein Schutzfaktor per se für das Kind ist«, warnt Beier. »Das ist aber ein Irrtum und es gibt genügend klinische Beispiele dafür, dass die verschiedensten Konflikte von Frauen direkt oder indirekt auf dem Rücken von Kindern ausgetragen werden können.« Aus Sicht von Kinzig ist es richtig, ein Bewusstsein für Missbrauchstäterinnen zu wecken. Und Tozdan hält fest: »Frauen galten jeher als Opfer sexueller Gewalt und nicht als Täterinnen. Dieses stereotype Bild der Frau müssen wir überwinden.« (dpa)