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Reutlinger fragen sich: Ist das Grundgesetz in guter Verfassung?

Scheitert das Grundgesetz an der Lebenswirklichkeit? Manch' Reutlinger beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja. Wie Passanten auf der Wilhelmstraße die deutsche Verfassung beurteilen, was sie an ihr schätzen oder kritisieren.

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Foto: Fotolia
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REUTLINGEN. Oh ja, die Würde des Menschen. Unantastbar soll sie sein. Und das hat sich offenbar tief ins Bewusstsein der Nation eingebrannt. Was nicht heißen soll, dass besagte Würde in der Lebenswirklichkeit auch tatsächlich immer und überall jene Wertschätzung erfährt, die ihr laut Verfassung gebührt. Gleichwohl ist sie in den Köpfen der Menschen sehr präsent. Auf Inhalte des Grundgesetzes angesprochen, ist die Würde des Menschen nämlich das Erste, was Passanten auf der Wilhelmstraße in den Sinn kommt. Oft aber auch das Einzige. Denn auf die Frage, was es eigentlich mit dem deutschen Grundgesetz auf sich hat, fallen die Antworten überwiegend dünn aus.

Zäh gestaltet sich deshalb der Straßen-Talk über die Verfassung der Bundesrepublik. Mancher nennt Stichworte wie »Pressefreiheit« oder »Recht auf Demonstrationen«. Andere blocken hingegen sofort ab: »Keine Ahnung, was da genau drinsteht.« Und diese Ahnungslosigkeit will verständlicherweise niemand presseöffentlich machen. Allzu blamabel wäre das, heißt es. Weshalb Flaneure lieber nichts sagen, als etwas Falsches oder Halbgares.

Eine, die sich trotzdem traut, ist Michaela Schneider. Für die 59-Jährige hat das Grundgesetz »einen unschätzbar hohen Wert. Nach Nazi-Terror und Hitler-Diktatur, muss dieses Regelwerk für unser Land so etwas wie ein Befreiungsschlag gewesen sein.« Die Reutlingerin spricht von einer »radikalen Kehrtwende – nämlich weg vom Verbrecherstaat und hin zu einer Nation, die sich zu unveräußerlichen Menschenrechten bekennt. Das muss man sich mal vorstellen, das ist für die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg fast schon revolutionär.«

Zwar räumt die Schneider ein, keine Detailkenntnisse über einzelne Artikel des Grundgesetzes zu haben. In gröberen Zügen ist ihr aber dennoch vieles geläufig. Etwa, dass hier Glaubens- und Versammlungsfreiheit ebenso fixiert sind, wie die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und deren Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Allerdings: »Ich fände es gut, wenn zum Beispiel auch das Recht auf psychische Unversehrtheit in den Regelkanon aufgenommen würde.«

Ein Gedanke, der Gert Wisniewski keineswegs fremd ist. Auch er meint, dass das Grundgesetz in Teilen ergänzt werden müsste, »weil sich seit 1949 halt doch eine Menge getan hat, von dem damals niemand wissen konnten, dass es irgendwann mal kommt«. Konkret nennt der Ravensburger »das Internet, neue Familienformen jenseits der klassischen Ehe sowie das Grundrecht auf klimatisch gesunde Lebensbedingungen in Zeiten der Erderwärmung«.

Derweil sich Helena Gessert wünscht, dass beispielsweise »der Begriff «Rasse» aus dem Grundgesetz gestrichen wird«. Für die 19-jährige Reutlingerin ist die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland »das Fundament unserer Demokratie« und deshalb »megawichtig«. Sie findet es bemerkenswert, dass bereits vor siebeneinhalb Dekaden die Gleichberechtigung der Geschlechter festgeschrieben und ethnischer sowie religiöser Diskriminierung eine klare Absage erteilt wurde. Dass es im alltäglichen Miteinander bis heute an der Umsetzung dieser hehren Vorsätze hapert, heißt für Helena Gessert indes mitnichten, dass das Grundgesetz versagen würde. Die dort formulierten Artikel sind aus Sicht der Reutlingerin »gesamtgesellschaftlich anzustrebende große Ziele. Ohne sie hätten wir keine Richtschnur und keine rechtliche Diskussionsbasis. Schon allein deswegen sind sie unverzichtbar«.

Eine Einschätzung, die von Veronika Schulz geteilt wird. Allerdings findet es die 74-Jährige »im Ergebnis ziemlich kümmerlich«, dass sich »über die Dauer von 75 Jahren noch keine Gleichberechtigung der Geschlechter ohne Wenn und Aber etablieren ließ und dass Hass, Hetze und Diskriminierung momentan sogar wieder auf dem Vormarsch sind«. Es sei »zweifellos visionär, was die Schöpfer der Verfassung, einstmals zu Papier gebracht haben. Aber Papier ist ja bekanntlich geduldig«.

Damit spricht sie Patrizia Geiger-Schott aus dem Herzen, die ebenfalls manche Kluft zwischen Grundrechten und gelebter Wirklichkeit zu erkennen meint. Außerdem fragt sich die 61-Jährige, ob das, was da vor 75 Jahren formuliert wurde, in Teilen nicht längst überholt ist. »Das Grundgesetz ist für mich so etwas wie ein Werte-Rahmen, der die Gesellschaft zusammenhält und ihr Orientierung bietet.« Ein solcher Rahmen müsse jedoch immer mal wieder auf den Prüfstand gestellt und gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst werden. »Etwa alle dreißig Jahre«, so Geiger-Schott, »sollten Renovierungsarbeiten durchgeführt und die Frage beantwortet werden, ob’s noch passt.« Zuvorderst aber sollte »sich die Politik an die aufgestellten Regeln halten und mit gutem Beispiel vorangehen«. Was sie mitunter nicht tue. »Sind vor dem Gesetz tatsächlich alle Menschen gleich? Ich bezweifle das.«

Und das bezweifelt auch Frank Kuhn. Vor allem aber hadert der Engstinger mit der grundgesetzlich verankerten Meinungsfreiheit, die er als realitätsfremd einstuft. Seine Erfahrung: »Wenn man etwas positiv oder negativ findet und dies öffentlich kundtut, wird man heutzutage oft voreilig in die rechte oder linke Ecke gestellt und angefeindet.« So gesehen sei das Grundgesetz wenig mehr als »graue Theorie«, die bedauerlicherweise am Alltag scheitere.

Ein Scheitern, dass auch Miguel Steffen beobachtet. »Ich weiß nur wenig über die Verfassung«, räumt der 20-Jährige ein. Aber dieses Wenige genügt, um festzustellen, dass es mit den im Grundgesetz verankerten Freiheiten mitunter nicht allzu weit her ist, weil, »wer sie in Anspruch nimmt, mit Diskriminierung rechnen muss«. Glaubensfreiheit bei gleichzeitiger Anfeindung wegen des Tragens eines Kopftuchs oder einer Kippa hat für ihn mit Freiheit wenig zu schaffen. Freiheit fühlt sich anders an. (GEA)