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Aktuell Grundgesetz

Zweimal gab es in 40 Jahren in Reutlingen ein Versammlungsverbot

Artikel 8, die Versammlungsfreiheit, gehört zu den zentralen Grundrechten der Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland. In Reutlingen wurden in den vergangenen 40 Jahren nur zwei Demonstrationen verboten.

Die Lust auf öffentliche Meinungsäußerung hat enorm zugenommen: Zwischen 150 und 220 Versammlungen werden in Reutlingen unterdes
Die Lust auf öffentliche Meinungsäußerung hat enorm zugenommen: Zwischen 150 und 220 Versammlungen werden in Reutlingen unterdessen jährlich angemeldet. Foto: fop
Die Lust auf öffentliche Meinungsäußerung hat enorm zugenommen: Zwischen 150 und 220 Versammlungen werden in Reutlingen unterdessen jährlich angemeldet.
Foto: fop

REUTLINGEN. »Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln«: Artikel 8, die Versammlungsfreiheit, gehört zu den zentralen Grundrechten der Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland. In Absatz 2 folgt eine Einschränkung: »Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.«

»Sobald sich zwei oder mehr Personen in der Öffentlichkeit versammeln und eine politische Meinung kundtun oder erörtern, ist das eine Versammlung«, erläutert Ordnungsamtsleiter Albert Keppler. Das Jedermannsrecht gelte im Übrigen auch für Menschen ohne deutschen Pass, fügt er hinzu.

Das Volk geht immer öfter auf die Straße: 150 bis 220 Versammlungen im Jahr

Kepplers Amt ist die zuständige Versammlungsbehörde für die Stadt Reutlingen. Hier müssen Treffen oder Demonstrationszüge angemeldet werden. 150 bis 220 Versammlungen gehen derzeit im Jahr auf und über Reutlinger Gassen und Plätze. »Vor 20 Jahren waren das zehn Mal weniger«, sagt Keppler. »Die Politik ist auf die Straße zurückgekehrt.«

Es seien viele Themen dazugekommen. Die Schröderschen Arbeitsmarktreformen gebaren die Montagsdemonstranten, die Klimaveränderung Fridays und Parents for Future. Verkehrsthemen bieten zahllose Demo-Anlässe. Die Corona-Pandemie holte die Maßnahmenkritiker und Impfgegner und ihre Epigonen auf die Straße.

Keppler ist seit 2007 beim Reutlinger Ordnungsamt, seit 2010 als Leiter. In den vergangenen 40 Jahren seien nur zwei Versammlungen verboten worden: einmal Anfang der 90er-Jahre eine Kurden-Demonstration, weil ein gewalttätiger Ablauf absehbar war. Und dann die Corona-Demonstration am 18. Dezember 2021 (siehe Infobox und nebenstehenden Artikel). Noch nie habe die Stadt einen Prozess führen müssen: »Seit 2007 hat kein Anmelder gegen städtische Auflagen geklagt.«

Für oder gegen was demonstriert wird, ist nicht Entscheidungsgrundlage. »Wir beeinflussen Inhalte nicht. Wir haben auch schon Demonstrationen gegen die Stadt genehmigt – und gegen mich.« Zellianer konnten unbehelligt skandieren: »Schießt Bosch und Keppler auf den Mond, das ist Raumfahrt, die sich lohnt.« Kurz: Sagen darf man fast alles auf der Gass’, was von der Meinungsfreiheit gedeckt ist (Artikel 5, Grundgesetz).

Stadt kann Einfluss auf Route und Dauer der Demonstration nehmen

Bei extremeren Gruppierungen schaut man mehr hin. Wenn etwa »Die Heimat« (früher NPD) eine Kundgebung anmeldet, ist dem Auflagenbescheid der Hinweis »Volksverhetzung verboten« beigefügt. Er ist laut Keppler die Botschaft an die Veranstalter: »Wir sind nicht doof und unvorbereitet.« Zu solchen Veranstaltungen gehen dann schon mal Ordnungsamtschef und Staatsanwaltschaft zum Zuhören hin. Auch wenn sich beispielsweise Kurden versammeln, wird nachgeschaut, ob verbotene Slogans, Symbole oder Fahnen auftauchen.

Demonstrationen in der Zeit der Pandemie

Mit der Pandemie begann für Ordnungsamt und Polizei in Reutlingen eine herausfordernde Zeit. Unangemeldete »Lichterspaziergänge«, die sich zu Demos ausweiten, über Tausend Menschen, die plötzlich vogelwild auf der Lederstraße wandern, eng an eng ohne Maske. Ein Demo-Anmelder, der auch in den sozialen Medien die Stimmung anheizt: Der erfolglose Auflösungsversuch einer Demonstration auf dem Marktplatz am 11. Dezember 2021 führt zu einer harten Gangart. Stadt und Landratsamt verbieten die für 18. Dezember angesetzte Demo. Das Landratsamt führt »infektionsschutzrechtliche«, die Stadt »versammlungsrechtliche« Gründe an. Die Staatsmacht zeigt Präsenz mit Wasserwerfern, Pferdestaffeln, Bereitschaftspolizei. Hunderte Demonstranten landen im Polizeikessel. Mit neuen Anmeldern entspannt sich der Umgang mit der Versammlungsbehörde. Nach dem 18. Dezember sei man »schnell wieder aufeinander zugegangen«, sagt Ordnungsamtschef Albert Keppler. Die größte Demo mit 7.500 Teilnehmern geht problemlos über die Bühne. Nach der Frontenverhärtung vom 18. Dezember wird Reutlingen gleichwohl zum Mekka von Impfskeptikern, Coronaleugnern und Staatsverdrossenen. Auch Keppler sieht »Wunden in der Gesellschaft, die nicht verheilt sind.« (igl)

Was die Stadt tun kann, ist, Einfluss nehmen auf die Route eines Zugs oder auf Tageszeit und Dauer einer Versammlung. In der Regel versuche man, den Vorstellungen der Anmelder nachzukommen. Wenn diese allerdings Rechte anderer zu stark tangierten, werde abgewogen. Wenn drei Klimaschützer fünf Stunden den Wandelknoten blockieren wollen oder sich Gastwirte und Einzelhändler auf der Wilhelmstraße von zu vielen Corona-Protestzügen belastet sehen, geht die Stadt in sogenannte Kooperationsgespräche mit den Demo-Anmeldern, um Kompromisse etwa bei der Wegführung zu finden. Zehn bis 20 solcher Gespräche gebe es im Jahr, laut Keppler mit guten Erfolgen. »In den letzten Jahren sind wir da richtig gut geworden. Wir zeigen eine zugewandte Einstellung.«

Das bestätigen auf GEA-Nachfrage Aktivisten unterschiedlichster Couleur: Michaela Brandner, die eine Weile die Corona-Demos angemeldet hat, hat »nur gute Erfahrungen« gemacht. Auch Jaron Immer von Fridays for Future hat schon öfter Kooperationsgespräche mit Behördenvertretern geführt, bei denen man letztlich immer akzeptable Kompromisse gefunden habe. (GEA)