BERLIN. Vor den Bund-Länder-Beratungen zu möglichen Öffnungsschritten in der Corona-Pandemie steigen die zentralen Kennzahlen weiter an.
Bereits am Samstag stieg die Zahl der binnen sieben Tagen gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner um 1,2 auf 63,8. Das meldete das Robert Koch-Institut (RKI). Die Inzidenz war infolge des Lockdowns bis Mitte Februar gesunken - auf 57,4 zum Ende der zweiten Februarwoche. Seit vergangenen Sonntag lag sie dann wieder bis auf einen Tag konstant über 60.
Auch der bundesweite Sieben-Tage-R-Wert stieg laut RKI-Angaben vom Freitag um 0,03 Punkte auf 1,08. 100 Infizierte geben das Virus also rechnerisch an 108 weitere Menschen weiter. Der Wert bildet das Infektionsgeschehen vor 8 bis 16 Tagen ab. Unter eins flaut das Infektionsgeschehen ab - über eins nimmt es zu. Die ansteckendere und wohl auch tödlichere Mutation B.1.1.7 greift also weiter um sich. Der Mutations-Anteil stieg binnen zwei Wochen von knapp 6 auf mehr als 22 Prozent zum Ende der dritten Februarwoche.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder beraten an diesem Mittwoch über das weitere Vorgehen in der Pandemie und zu möglichen Öffnungsschritten. »Ich glaube, dass wird eine besonders schwierige Woche werden«, sagte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach am Samstag im Podcast von »The Pioneer«. »Da rasen zwei Züge ungebremst aufeinander zu und wir wissen nicht, wie das noch zu lösen ist.« Auf der einen Seite stehe der Wunsch nach Lockerungen - was auch zum Teil angekündigt wurde, so der Epidemiologe, auf der anderen Seite habe die dritte Welle begonnen. »Die Gefahr ist eben, dass wir in die dritte Welle hinein lockern.«
Alle Beteiligten wüssten, dass die Situation ungefähr so sei, wie er sie gerade beschrieben habe, sagte Lauterbach. »Daher wird im Hintergrund fieberhaft daran gearbeitet, ein Konzept zu entwickeln, was zwar Lockerungen schon vorsieht, diese Lockerungen aber in einer Art und Weise gestaltet, dass also die dritte Welle nicht befeuert wird, sondern zumindest gestreckt wird, möglicherweise auch verhindert wird.«
Olaf Scholz erwartet angemessenes Vorgehen
Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) forderte vor den Beratungen ein gemeinsames Vorgehen. »Ich bestehe darauf, dass wir hier eine gemeinschaftliche Führungsleistung in Deutschland zustande bringen«, sagte Scholz dem Deutschlandfunk in einem Interview, das am Sonntag ausgestrahlt werden soll. Es müsse auch die Bereitschaft geben, dass bei steigenden Infektionszahlen vor Ort schnell gehandelt werde, damit es nicht wieder eine Ausbreitung des Virus auf ein ganzes Bundesland oder Deutschland gebe.
Es sei bekannt, dass etwa der Einzelhandel in einer ganz schwierigen Lage sei. »Aber niemand hat etwas davon, wenn wir Geschäfte öffnen und kurz danach wieder schließen«, erklärte er. »Deshalb sage ich, ich bin dafür, dass es nicht bei vagen Aussagen bleibt, sondern dass wir sehr klare, präzise Festlegungen treffen, dass sie zwischen den Ländern und mit der Bundesregierung besprochen werden und dass wir dann uns auch gemeinsam vorwärts bewegen.« Es müsse einen Plan geben, den alle gut verstehen könnten - in Kombination mit dem großflächigen Testen auf das Virus. »Das muss eine Lösung aus einem Guss sein.«
Der Vize-Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Stephan Hofmeister, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): »Wir brauchen jetzt dringend neue Konzepte, die nicht an immer neue, immer niedriger gesetzte Inzidenzwerte geknüpft werden dürfen.« Ein Dauerlockdown sei keine Option - daran ändere auch das Auftreten von Mutationen nichts.
Hofmeister: Kollateralschäden groß
»Die Kollateralschäden für die gesamte Gesellschaft, aber insbesondere für Kinder und Jugendliche und die Wirtschaft, sind inzwischen immens«, sagte Hofmeister. »Bei einer Therapie muss immer wieder diskutiert werden, ob Haupt- und Nebenwirkungen in einem gesunden Verhältnis zueinander stehen. Ist das nicht der Fall, dann muss die Therapie korrigiert werden.«
Insgesamt wird die dritte Welle der Corona-Pandemie nach Berechnungen des Saarbrücker Pharmazie-Professors Thorsten Lehr ähnlich stark ausfallen wie die zweite. »Ich gehe schon davon aus, dass wir wieder so Zustände wie vor Weihnachten bekommen werden«, sagte der Experte für Corona-Prognosen der Deutschen Presse-Agentur in Saarbrücken. Er rechnete damit, dass in der ersten Aprilhälfte wieder Sieben-Tage-Inzidenzen um 200 erreicht werden.
Seit Mitte Februar hätten mehr Kontakte zu höheren Zahlen geführt. Es gebe eine Lockdown-Müdigkeit, in manchen Bereichen laufe das normale Leben wieder an, weitere Öffnungen stünden bevor. Lehr: »Auch wenn die Lockerungen moderat sind, werden sie sich auswirken.« Lehr geht davon aus, dass es nach dem 7. März rund 20 Prozent mehr Kontakte gebe. Die Kombination aus Lockerungen mit der Mutante werde zu einem relativ starken Anstieg führen. Ohne jegliche Lockerung würde Anfang April die 100er-Inzidenz erreicht. In weiter Ferne sei die noch bei den letzten Beratungen angestrebte Inzidenz von 35. (dpa)