BERLIN. Die Zeit läuft Claus Schenk Graf von Stauffenberg davon. Zwei Versuche, Adolf Hitler zu töten, hat er in den Tagen zuvor bereits abbrechen müssen, ehe sich ihm am 20. Juli 1944 unerwartet eine dritte Gelegenheit bietet. Am Morgen fliegt er von Berlin aus zur Wolfsschanze im damaligen Ostpreußen, dem Hauptquartier des Führers. Dort allerdings muss der 36-Jährige improvisieren: Die Besprechung mit Hitler, zu der er einbestellt ist, wird um eine halbe Stunde vorgezogen. Stauffenberg kann nur noch einen von zwei vorbereiteten Sprengsätzen in seine Aktentasche packen, die er wenige Meter von Hitler entfernt am Fuß eines Kartentisches abstellt. Dann verlässt er unter dem Vorwand, telefonieren zu müssen, den Raum. Kurz darauf explodiert die Bombe – Hitler aber überlebt.
80 Jahre später sitzt Stauffenbergs Enkelin Sophie von Bechtolsheim in ihrem Haus hoch über dem Staffelsee und klärt bei einer Tasse Kaffee erst einmal die Begrifflichkeiten. Ihr Großvater – ein Attentäter? »Ich finde den Begriff des Tyrannenmordes besser«, sagt sie. »Der Attentäter unserer Tage ist jemand, der seine Ideen in Bomben packt, der maximale Aufmerksamkeit sucht und die Menschen durch Gewalt und Terror zu seinen Ideen zwingen will.« Stauffenberg und seine Mitverschwörer dagegen hätten Gewalt und Terror beenden wollen. Ihr Ziel sei die Rückkehr zur Hoheit des Rechts gewesen. »Das ging nur über den Tod Hitlers.«

Dass der Führer noch lebt, weiß der Oberst im Generalstab Stauffenberg nicht, als er am späten Nachmittag des 20. Juli nach Berlin zurückkehrt. Die minutiös geplante »Operation Walküre« ist gescheitert, weil die Sprengkraft der Bombe nicht ausreicht und die Tischplatte die Detonation zusätzlich abschwächt. Noch am gleichen Abend werden Stauffenberg und vier seiner Unterstützer festgenommen und hingerichtet. Seine schwangere Ehefrau Nina und die vier Kinder stecken die Nazis in Gefängnisse, Konzentrationslager und Kinderheime, seinen Leichnam lassen sie wieder ausgraben und verbrennen, ehe sie die Asche über die Rieselfelder am Rande Berlins verstreuen. Kein Grab soll an Stauffenberg erinnern.
Historikerin ist Sophie von Bechtolsheim, die Tochter des dritten Stauffenberg-Kindes Franz Ludwig, nicht wegen ihres Großvaters geworden. Die Geschichte des Widerstands habe sie anfangs gar nicht so sehr beschäftigt, sagt sie, und auch in der Familie sei darüber nicht ständig gesprochen worden. »Wir sind keine Berufshinterbliebenen«, hat ihre Großmutter einmal gesagt. Als 2019 jedoch eine neue Stauffenberg-Biografie mit dem plakativen Slogan »Porträt eines Attentäters« erscheint, fühlt die Enkelin sich herausgefordert, sie moniert handwerkliche Fehler und Fehldeutungen und schreibt unter dem Titel »Mein Großvater war kein Attentäter« eine Replik. Dem 20. Juli jede moralische Intention abzusprechen: »Das grenzte schon an Geschichtsklitterung«, sagt sie. »Und das hat mich weniger in meiner Familienehre als in meiner Berufsehre als Historikerin verletzt.« Auch deshalb ist Sophie von Bechtolsheim, Jahrgang 1968, verheiratet, vier erwachsene Kinder, heute eine gefragte Stauffenberg-Erklärerin
Als Hitler 1933 Reichskanzler wird, hält der junge Offizier aus dem Schwäbischen ihn zunächst für einen Mann der Tat. Stauffenberg, katholisch erzogen, humanistisch gebildet, national gesinnt und weiß Gott kein Freund der Weimarer Republik, schwärmt vom »Gedanken des Führertums« und einer »neuen, deutschbestimmten Rechtsordnung.« Wie viele seiner Offizierskollegen aber hält er aus einer aristokratisch-elitären Distanz heraus Abstand zur NSDAP und ihren Parteiorganisationen. Er macht in der Wehrmacht Karriere, empfindet den Kriegsbeginn später als »Erlösung« und schreibt seiner Frau nach dem Einmarsch aus Polen so staunend wie abschätzig: »Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich unter der Knute wohlfühlt.«
Stauffenberg: ein begeisterter Nazi, Antisemit und Rassist? Zwischenzeitlich vereinnahmt ihn sogar die AfD für sich – als deutschen Patrioten, dessen Porträt sich Mitglieder auf ihre T-Shirts drucken lassen. Motto: Stauffenberg oder Sophie Scholl würden heute die AfD wählen. Sophie von Bechtolsheim sagt dazu nur: »Die Form von Widerstand, den die AfD für sich reklamiert, ist sicher nicht die meines Großvaters, seiner Mitstreiter oder der Weißen Rose.«
Claus Graf Schenk von Stauffenberg in einer Aufnahme aus den frühen 1930er-Jahren. ARCHIVFOTO: DPA
Lange Zeit hat die Familie sich aus solchen Deutungsdebatten herausgehalten. Der radikalisierte Einzelgänger jedoch, als der er oft dargestellt werde, sei Stauffenberg nicht gewesen, beteuert seine Enkelin. »Mein Großvater war sicher kein Linksliberaler. Aber es gibt keine einzige Handlung, mit der er sich gegen Menschen jeglicher Religion oder Abstammung gewendet hätte.« Verpasst er nicht einem Regimentskameraden eine saftige Disziplinarstrafe, als der beim Polenfeldzug zwei Frauen erschießen lässt? Sagt er nicht schon im Winter 1941/42 nachweislich einem Offizierskollegen, es gebe nur eine Möglichkeit, Hitler und seine Wahnideen zu stoppen – nämlich indem man ihn umbringe? »Er war bereit zu handeln«, sagt seine Enkelin. »Das ist für mich das Vorbildliche an ihm.«
1943 lässt ihr Großvater sich nach Berlin versetzten und sucht dort den Kontakt zu Hitler-Gegnern im Offizierskorps. Die meisten kommen aus eher konservativen Kreisen, viele Adlige sind unter ihnen, aber auch ein Mann wie der Sozialdemokrat Julius Leber, mit dem Stauffenberg eine persönliche Freundschaft verbindet. Das Drehbuch für den Umsturz sieht vor, nach dem Attentat auf Hitler schnell und entschlossen gegen die Funktionäre der verschiedenen Nazi-Organisationen vorzugehen. »Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird,« sagt Stauffenberg zuvor. »Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem eigenen Gewissen.« Stauffenberg ist kein Demokrat, von der Parteiendemokratie hält er nicht viel. Aber er hat den Mut, den andere nicht haben.
»Ich finde den Begriff des Tyrannenmordes besser«
Ihr Großvater – ein deutscher Held? Sophie von Bechtolsheim erinnert sich noch, wie sie in die 9. Klasse kam und ihr Geschichtsbuch aufschlug. Das scharfkantige Profilfoto Stauffenbergs war dort mit einem kleinen Text versehen – und sie habe sich gefragt, wie sie denn zu dieser Person stehe. »Ist das mein Großvater, ohne den ich hier nicht sitzen würde, oder ist das jetzt eine Figur der Zeitgeschichte« Ein Widerstreit der Gefühle sei das gewesen, erzählt sie, und dieses Beäugtwerden wegen des berühmten Namens sei ihr auch immer unangenehm gewesen. In der Familie sei der Großvater schließlich nie heroisiert worden. »Meine Großmutter hat da sehr viel mit sich selbst ausgemacht.« Andächtig die Stimme senken musste im Hause Stauffenberg jedenfalls niemand, wenn über den Vater, Großvater oder Urgroßvater gesprochen wurde.
Und ihre eigenen Söhne? Die hatten in der Schule schon deshalb nicht die Aufmerksamkeit wie sie, die geborene Stauffenberg, weil sie einen anderen Nachnamen tragen. »Ich habe ihnen natürlich Antworten gegeben, wenn ich gefragt wurde. Aber Stauffenberg war jetzt kein Dauerthema bei uns. Wir haben ja auch noch andere Vorfahren.« Clemens von Bechtolsheim etwa, der Ende des 19. Jahrhunderts die Milchzentrifuge erfand und dessen Porträt in der Diele ihres Hauses hängt.
Für Claus Schenk Graf von Stauffenberg, geboren auf Schloss Jettingen bei Günzburg, kommt der 20. Juli 1944 wie gerufen. Eigentlich hat er nicht damit gerechnet, für diesen Tag ins Führer-Hauptquartier befohlen zu werden, um dort über die geplante Neuaufstellung von Truppen zu berichten. Umso günstiger ist die Gelegenheit nun. Er ist nicht nur der strategische Kopf des Widerstandes, sondern auch der Mann, der Hitler töten soll, weil von den Verschwörern nur er Zugang zu dessen Hauptquartier hat.
»Wir sind keine Berufshinterbliebenen«
Wer in der Nachfolgeregierung alles Minister werden soll, haben sie bereits bestimmt, sie haben Kontakte zu Sozialdemokraten und sogar zu einigen Kommunisten zu knüpfen versucht und in einem gemeinsamen Eid eine »neue Ordnung« für Deutschland beschworen. »Wir wollen ein Volk«, heißt es darin pathetisch, »das in der Erde der Heimat verwurzelt den natürlichen Mächten nahebleibt und in freiem Stolze die niederen Triebe des Neides und der Missgunst überwindet.« Nur Hitler muss dafür noch beseitigt werden.
An seiner Stelle aber sterben drei Soldaten und der Stenograf Heinrich Berger. Dessen Tochter Dorothea Johst hat Sophie von Bechtolsheim vor einigen Jahren getroffen. Die Enkelin des Mannes mit der Bombe und die Angehörige eines Opfers – im Schicksal vereint, wenn man so will. Ein Foto vom Grabstein Bergers hatte Dorothea Johst ihr zuvor bereits per Mail geschickt. Todesdatum: 20. Juli 1944.
»Als ich das gesehen habe, da hat es mich echt umgehauen«, sagt Stauffenbergs Enkelin. »Den Grabstein des Mannes zu sehen, der dem Anschlag meines Großvaters zum Opfer fiel, noch dazu mit diesem Datum: das war schon sehr bestürzend.« Berger, damals angeblich Deutschlands bester Stenograf, ist vielleicht die tragischste Figur des 20. Juli 1944: Zivilist, nicht einmal Mitglied der Partei und einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort.
"Natürlich war meinem Großvater klar, dass bei diesem geplanten Tyrannenmord auch Menschen sterben werden, die keine Tyrannen sind", sagt Sophie von Bechtolsheim eher erklärend als entschuldigend am Ende des Gesprächs. "Andererseits: "Er ist ja nicht Offizier geworden, um irgendwo heimlich eine Bombe zu platzieren." In erster Linie, ahnt sie, verstand er sich als Diener Deutschlands.
Dorothea Johst übrigens macht Stauffenberg nicht für den Tod ihres Vaters verantwortlich. Hitler auszuschalten, findet sie bei allem Leid, das der 20. Juli über ihre Familie gebracht hat, war den Versuch wert. Am Ende des Treffens mit der Enkelin des Täters nimmt sie ein Wort in den Mund, das Sophie von Bechtolsheim von sich aus so weder verwendet noch erwartet hätte. Die Tochter des Opfers spricht von Versöhnung. (GEA)