STUTTGART/DORTMUND/BERLIN. Der Rücken macht seit Wochen Probleme, die Hausarztpraxis empfiehlt den Gang zum Orthopäden und schreibt einen Überweisungsschein aus. Der normale Verlauf, wenn man in Deutschland einen Facharzttermin braucht. Doch spätestens ab hier beginnt es vor allem für gesetzlich Versicherte schwierig zu werden: Einen zeitnahen Facharzt-Termin zu bekommen ist für die meisten Nicht-Privatpatienten mittlerweile fast unmöglich.
Im vorliegenden Fall wird vom Kassenpatienten bei einem nahe gelegenen Orthopäden über das vorhandene Online-Terminbuchungssystem Doctolib ein Termin gesucht, der nächste wird in zweieinhalb Monaten angeboten. Auch telefonisch wird dieser Termin über die Sprechstundenhilfe bestätigt, ein früherer Termin sei leider nicht möglich.
Kein baldiger Termin in Sicht
Gibt man in die Doctolib-Maske am PC beim selben Arzt nun aber anstatt gesetzlich versichert, privat versichert ein, ergibt sich plötzlich ein ganz anderes Bild: als Privatpatient werden einem am selben Tag noch zwei freie Termine angeboten, in derselben Woche immerhin noch sieben.
Auch bei der Deutschen Stiftung Patientenschutz häufen sich die Rückmeldungen zu langen Wartezeiten für Kassenpatienten bei Fach- und Hausarztkonsultationen. »Zudem wird berichtet, dass möglicherweise Privatpatienten bei der Terminvergabe begünstigt werden«, so Vorstand Eugen Brysch. Für ihn ist klar, wo die Ursache liegen könnte: »Durch eine höhere Vergütung für Privatpatienten als für Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein Anreiz für eine Bevorzugung gegeben.«
74 Millionen gesetzlich Versicherte
Von den mehr als 84 Millionen Menschen in Deutschland waren im Juli 2023 rund 74 Millionen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert. Das entspricht etwa 90 Prozent der Bevölkerung. Die privaten Krankenversicherungen hatten nach Angaben ihres Verbands (PKV) 2023 insgesamt gut 38 Millionen laufende Versicherungen im Bestand, darunter 8,7 Millionen Voll- und 29,6 Millionen Zusatzversicherungen.
Michaela Engelmeier, Vorstandsvorsitzende beim Sozialverband Deutschland, erreichen ebenfalls immer wieder Meldungen von Mitgliedern, die als gesetzlich Krankenversicherte von Problemen bei der Vergabe von Arztterminen berichten. »Dies betrifft mittlerweile auch Termine bei Hausärzten, im Besonderen aber Termine in Facharztpraxen.«
Doch wie sieht die Rechtslage aus? Dürfen niedergelassene Ärzte Privatpatienten in der Terminvergabe bevorzugen? Laut Kassenärztlicher Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) haben Kassenärzte generell eine Behandlungspflicht bei GKV-Versicherten. »Dafür müssen sie 25 Stunden in der Woche Sprechstundenzeit einplanen, fünf davon sind für eine offene Sprechstunde vorgesehen«, so die KVBW.
Beschwerden von Kassenpatienten häufen sich
Bei der Terminvergabe sei laut Rechtslage außerdem die medizinische Dringlichkeit der entscheidende Faktor. Beispiel: Ein GKV-Versicherter mit starkem Nasenbluten habe Vorrang gegenüber einem Privatpatienten, der zur Vorsorge kommt. Über die medizinische Dringlichkeit entscheidet dabei der Arzt oder seine medizinischen Fachangestellten.
Dass die Bevorzugung von Privatpatienten bei der Terminvergabe kein rein subjektives Empfinden von gesetzlich Versicherten ist, bestätigt auch eine Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung und der Cornell University aus dem Jahr 2020. Diese kam zu dem Ergebnis, dass Privatpatienten von vielen Fachärzten bevorzugt würden. Die Feldstudie bestätigte, dass Praxen Privatversicherten mit einer statistisch signifikant höheren Wahrscheinlichkeit einen Termin anboten. Den Hauptgrund sahen die Autoren auch hier in der höheren Vergütung von Privatversicherten.
116 117: Diese Nummer kann bei der Terminsuche beim Facharzt helfen
Die Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung vermittelt über die Telefonnummer 116117 Termine bei Haus- oder Fachärzten sowie bei Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendärzten.
Ein Facharzt-Termin innerhalb von 35 Tagen kann allerdings nur dann vermittelt werden, wenn der Patient über eine Überweisung mit Dringlichkeitscode verfügt. Dieser kann bei Bedarf von der Hausarztpraxis ausgestellt werden.
Bei Überweisungen ohne Dringlichkeitscode können auch unter dieser Nummer meist nur Facharzttermine innerhalb von acht bis zwölf Wochen vermittelt werden.
Eine Überweisung ist nicht nötig, wenn es um einen Termin bei einem Haus- oder Kinderarzt, Augenarzt, Frauenarzt oder Psychotherapeuten geht.
Bei Beschwerden über mögliche Benachteiligungen bei der Terminvergabe bei Fachärzten ist der erste Ansprechpartner für Patienten die jeweilige Krankenkasse. (kali)
Doch wie sieht der Unterschied in der Vergütung von Kassen- und Privatpatienten überhaupt aus? Bei der Vergütung von Kassenpatienten handelt es sich um ein äußerst komplexes System. Man kann aber sagen: Im Schnitt kann ein Facharzt bei einem Privatpatienten das 2,5-fache von einem Kassenpatienten abrechnen. Die Quartalspauschale für einen Kassenpatienten ist außerdem schnell ausgeschöpft, kommt dagegen ein Privatpatient im Quartal mehrmals in eine Praxis, kann jedes Mal erneut der Satz für die erbrachte Arztleistung abgerechnet werden.
Regelmäßige Datenerhebungen gefordert
Als Verband der Mediziner sagt der Virchowbund: »Knapp 20 Prozent aller ärztlichen Leistungen in der GKV werden nicht bezahlt. Vor allem Hausärzte, Fachärzte der wohnortnahen Grundversorgung und Praxen mit großem Leistungsspektrum leiden unter zu niedrigen Pauschalen.« Das Honorar, das ein Arzt für die Behandlung eines GKV-Patienten erhalte, schwanke außerdem von Quartal zu Quartal. »Ärzte können dadurch ihre Einnahmen schlecht planen und müssen Regresse und Abschläge fürchten.«
Für die meisten Ärzte würde sich ihre Praxis ohne einen gewissen Anteil an Privatpatienten wohl kaum rechnen. Die Leidtragenden der Unterschiede bei der Gebührenordnung sind am Ende jedoch die Kassenpatienten. Zumindest bei der Terminvergabe. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz will dies nicht hinnehmen, fordert regelmäßige Datenerhebungen. »Obwohl der Vorwurf einer Bevorzugung von Privatpatienten im Raum steht, tut die Kassenärztliche Vereinigung bei der ambulanten Gesundheitsversorgung zu wenig«, kritisiert Eugen Brysch. Gesundheitsminister Lauterbach müsse daher in Zukunft alle zwei Jahre einen Bericht über die Terminvergabepraxis in den einzelnen Praxen vorlegen, um mögliche Unterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten zu klären.
Gebührenordnung in der Kritik
»Terminprobleme sind auch häufig die Folge einer bestehenden Unterversorgung«, meint Engelmeier vom Sozialverband Deutschland. Die Kassenärztlichen Vereinigungen müssten daher ihren gesetzlichen Sicherstellungsauftrag für die medizinische Versorgung erfüllen und eine flächendeckende Versorgung gewährleisten. Durch Anreize zur Niederlassung von Ärzten in unterversorgten und durch bessere Regelungen in überversorgten Regionen müsse hier gegengesteuert werde.
Vor allem aber müssten die Gebührenordnungen für Kassenpatienten (EBM) und Privatpatienten (GOÄ) überarbeitet und angeglichen werden. »Noch besser wäre eine einheitliche Gebührenordnung, um keine finanziellen Anreize für eine Differenzierung zwischen gesetzlich und privat Versicherten zu schaffen«, so die Verbandschefin. (GEA)