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Fraktionsvize in Reutlingen: Welche Lehren die SPD aus dem Wahl-Desaster zieht

Nach der Europawahl will die SPD zurück auf Erfolgskurs. Wie das gehen soll, verrät Bundestags-Fraktionsvize Verena Hubertz in Reutlingen.

Stabile Wirtschaft und gute Arbeit: Das soll der SPD Wählerstimmen bringen. Für ihr Programm werben die Bundestagsabgeordneten V
Stabile Wirtschaft und gute Arbeit: Das soll der SPD Wählerstimmen bringen. Für ihr Programm werben die Bundestagsabgeordneten Verena Hubertz und Martin Rosemann bei den Familienunternehmern mit Moderator Rainer Knauer (Mitte) in Reutlingen. Foto: Dieter Reisner/GEA
Stabile Wirtschaft und gute Arbeit: Das soll der SPD Wählerstimmen bringen. Für ihr Programm werben die Bundestagsabgeordneten Verena Hubertz und Martin Rosemann bei den Familienunternehmern mit Moderator Rainer Knauer (Mitte) in Reutlingen.
Foto: Dieter Reisner/GEA

REUTLINGEN. Verena Hubertz und Martin Rosemann ergänzen sich perfekt. Sie, die rheinische Frohnatur, sorgt für Stimmung. Er, der Einser-Absolvent, für Fakten. Im Doppelpack sprechen sie Herz und Verstand an. Sonst im Berliner Bundestag, wo beide für die SPD sitzen. Jetzt auf der Reutlinger Achalm, wo sie die Familienunternehmer besuchen. Dort wie hier kämpfen die Genossen mit denselben Problemen: Wie kommt die Partei aus dem Umfragetief? Wie kommen die Arbeitnehmer in Lohn und Brot? Wie kommt die Wirtschaft wieder in Schwung? Gegen die Misere lächelt und argumentiert das Duo tapfer an. Doch ob das am Ende reicht?

13,9: Die Zahl ist eine Klatsche. So viel Prozent der Stimmen hat die SPD bei der Europawahl erhalten. Damit landete sie auf dem dritten Platz – nach Union und AfD. Das historisch schlechte Ergebnis redet Rosemann schön. »Die Leistung der Ampel-Koalition ist besser als ihre Präsentation«, meint er. Und zählt Erfolge auf: Deutschland habe sich von russischen Rohstoffen befreit, die Inflation gedrückt und stationäre Grenzkontrollen eingeführt. Alles in allem sei das Land also gut durch die Krise gekommen, die Russland heraufbeschworen hat mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Was nicht zuletzt das Verdienst von SPD-Kanzler Olaf Scholz sei. »Wir brauchen Leute, die uns besonnen und verantwortungsbewusst durch die Krise steuern«, lobt Rosemann den Regierungschef. Der hat die Rückendeckung aus den eigenen Reihen bitter nötig. Steht er doch wegen seiner zögerlichen, steifen, maulfaulen Art unter Beschuss und unterliegt in Meinungsumfragen regelmäßig seinem parteiinternen Konkurrenten: Verteidigungsminister und Wählerliebling Boris Pistorius. Noch hält sich Scholz im Kanzleramt, er ist aber angezählt.

Hört man Rosemann zu, könnte man fast glauben, alles sei nur ein Missverständnis: Die Ampel liefert, aber das Volk merkt nichts. Doch mit der Zeit lässt der Parlametarier auch Kritik an der Regierung durchblicken. Krieg, Flucht, Energiewende: »Veränderung verursacht Verunsicherung«, stellt Rosemann fest. Die Aufgabe der Ampel – und vor allem der Kanzlerpartei SPD – bestehe also darin, für Sicherheit zu sorgen.

»Die Leistung der Ampel-Koalition ist besser als ihre Präsentation. - Martin Rosemann, SPD-Politiker und Bundestags-Abgeordneter für den Wahlkreis Tübingen«

Wenn Rosemann Sicherheit sagt, dann meint er innere Sicherheit. Also Steuerung von Migration und Schutz vor Kriminalität. Die Ermordung eines Polizisten durch einen Afghanen in Mannheim brachte die Wende. Künftig sollen schwerkriminelle Flüchtlinge auch nach Afghanistan und Syrien abgeschoben werden. Diesmal hat Kanzler Scholz zwar eingelenkt. Doch insgesamt zögert die SPD bei der Verschärfung der Asylpolitik, die Union treibt sie vor sich her.

Darum konzentriert Rosemann sich auf eine andere Sicherheit, nämlich die soziale. Das ist die Kernkompetenz von SPD – und Rosemann. Der 47-jährige Familienvater hat Volkswirtschaft studiert, in der Arbeitsmarkt- und Sozialforschung gearbeitet und vertritt jetzt den Wahlkreis Tübingen im Bundestag. Dort ist er für die SPD-Fraktion Sprecher für Arbeit und Soziales. »Wir sind nicht die Partei der Faulenzer«, betont Rosemann. »Sondern der Arbeitnehmer.« Sein Ziel sind sichere, gut bezahlte Jobs. »Arbeit muss sich lohnen«, fordern die Sozialdemokraten und wollen 15 Euro Mindestlohn, flächendeckende Tarifverträge und geringere Besteuerung der gesellschaftlichen Mitte. Stattdessen soll es höhere Steuern auf Kapital und Vermögen geben.

Das ist die eine Seite, die andere Seite sind sichere, auskömmliche Renten. »Wir machen keine Politik mit, wo die junge Generation länger arbeitet, höhere Beiträge zahlt und kleinere Renten kriegt«, versichert Rosemann. Doch die Alterung der Gesellschaft sorgt für eine massive Schieflage. Die Finanzierungslücke will die Ampel schließen mit einem stabilen Rentenniveau, einer mäßigen Beitragserhöhung und einer staatlichen Kapitaldeckung. Das Rentenpacket II von SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil hat das Kabinett kürzlich beschlossen.

»Wir sind nicht die Partei der Faulenzer, sondern der Arbeitnehmer. - Martin Rosemann, SPD-Politiker und Bundestags-Abgeordneter für den Wahlkreis Tübingen«

Höherer Mindestlohn, höherer Sozialbeitrag, höhere Kapitalsteuer: Damit kann man Geschäftsleute nicht ködern. Das bekommt Rosemann bei den Familienunternehmern auf der Achalm zu spüren. Seine Argumente ziehen nicht recht – sein sachlich-nüchternes Auftreten auch nicht. Für Ausgleich sorgt dagegen Kollegin Hubertz. Als Startup-Gründerin hat sie bei den Reutlinger Firmeninhabern einen Stein im Brett. Die Betriebswirtin entwickelte nach dem Studium eine Handy-App für Koch-Videos, beschäftigte 60 Mitarbeiter und gewann 20 Millionen Nutzer. Das Geschäft verkaufte sie vor dem Einzug in den Bundestag 2021. Dort vertritt die 36-Jährige den Wahlkreis Trier, wurde zur stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden befördert und ist unter anderem für Wirtschaft zuständig.

Ob sie in der FDP oder CDU nicht besser aufgehoben wäre, will Moderator Rainer Knauer wissen. Und Hubertz räumt ein: »Als Unternehmerin bin ich Exotin in der SPD.« Trotzdem sieht die Schlosser-Tochter sich als Paradebeispiel für das sozialdemokratische Versprechen: Aufstieg durch Gründung. Auch sie will einträgliche Arbeit – weiß aber, dass es dafür florierende Unternehmen braucht. Für die nötigen Investitionen in Infrastruktur soll der Staat sorgen – mittels gelockerter Schuldenbremse oder weiteren Sondervermögen. Auch Privatkapital will Hubertz mobilisieren. »Wenn wir die Zukunft bauen, warum gehört sie uns dann nicht?« Es ist eine rhetorische Frage. Dass in Deutschland etwa Windräder aus China und Stromnetze aus den Niederlanden stammen, steht seit langem in der Kritik. Auch Bürokratie will Hubertz abbauen: schlankere Antragsformulare, schnellere Genehmigungsverfahren, digitalisierte Prozesse. »Wir müssen pragmatischer werden«, fordert sie.

So weit, so wirtschaftsfreundlich. Doch damit endet der Kuschelkurs. Das Lieferkettengesetz aussetzen? Das Verbrenner-Aus zurücknehmen? E-Fuels bei Autos zulassen? Nicht mit der SPD! »Wer Optionen lange offenhält, der sorgt für Verunsicherung«, wehrt Hubertz die Forderung nach Technologieoffenheit ab.

Das dürfte den Reutlinger Unternehmern nicht passen. Doch die junge Frau wirkt so flott, fesch und fröhlich, dass es ihr selbst klassische CDU-Wähler nicht übelnehmen, wenn sie sagt: »Die SPD ist die einzige Partei, die soziale Gerechtigkeit, ökologische Verantwortung und wirtschaftliche Dynamik miteinander verbindet.« (GEA)