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Missverständnis Europa

Der Schriftsteller Robert Menasse hat für seinen Roman »Die Hauptstadt« den Deutschen Buchpreis bekommen. Er blickt darin auf die EU-Metropole Brüssel

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse (63) war in Tübingen zu Gast in der Reihe »Osiander im Carré«.  FOTO: STRÖHLE
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse (63) war in Tübingen zu Gast in der Reihe »Osiander im Carré«. FOTO: STRÖHLE
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse (63) war in Tübingen zu Gast in der Reihe »Osiander im Carré«. FOTO: STRÖHLE

TÜBINGEN. Das Erste, was Robert Menasse am Montagabend im Tübinger Sparkassen-Carré tut: Er fotografiert das Publikum mit seiner Handykamera. Er habe nun mal diesen Soziale-Medien-Account und wisse nie, was er da draufstellen solle, begründet er die Aktion. Warum also nicht eine »qualifizierte Öffentlichkeit« zeigen? Das Publikum hat er vorher um Erlaubnis gefragt.

Dann geht’s weiter – im Gespräch mit Professor Dorothee Kimmich, Literaturwissenschaftlerin aus Tübingen, die den österreichischen Schriftsteller zu seinem Roman »Die Hauptstadt« befragt. Jenem Buch, erschienen im Suhrkamp-Verlag, für das Menasse im Oktober in Frankfurt den Deutschen Buchpreis bekommen hat. Auszeichnungen hat er bereits zuhauf, darunter den Friedrich-Hölderlin-, den Lion-Feuchtwanger-, den Marie-Luise-Kaschnitz-, den Erich-Fried-, den Heinrich-Mann- und den Max-Frisch-Preis.

»Lauter Trostpreise«, sagt er scherzhaft. Wobei Trost ja auch etwas Ermutigendes sein kann. Trost können derzeit auch die leidenschaftlichen Europäer und Anhänger des europäischen Projekts gebrauchen, zu mal der Nationalismus munter Blüten treibt und es in Brüssel auch nicht wirklich rund läuft.

Wenn er einen Roman schreibe, gehe er, um zu recherchieren, grundsätzlich an den Ort, an dem die Figuren leben, sagt Menasse. Das habe er auch bei seinem Roman »Die Vertreibung aus der Hölle« (2003) getan. Das Publikum lacht, stellt sich bildhaft diesen Höllentrip des Autors vor. Dabei bezieht dieser sich auf die Städte Lissabon und Amsterdam, die in dem Buch eine Rolle spielen.

Ausgangspunkt Auschwitz

»Die Hauptstadt«, im September er schienen, ist ein Brüssel-Roman. Und einer, der Fehlfunktionen der Europäischen Kommission schonungslos der Lächerlichkeit preisgibt. Das Buch sei »ein vielschichtiger Text, der auf meisterhafte Weise existenzielle Fragen des Privaten und des Politischen miteinander verwebt und den Leser ins Offene entlässt«, be gründete die Jury des Deutschen Buchpreises die Wahl des diesjährigen Preis trägers. Wie sich bereits im Prolog zeigt, den Menasse bei »Osiander im Carré« vorliest, wimmelt es im Roman vor Erzählsträngen und Charakteren, deren Beziehung zueinander sich erst allmählich erschließt. Gesichtslos und abstrakt möge einem die EU oft erscheinen, aber, so der Autor: »Sie ist menschengemacht.« Also eigne sie sich als Erzählstoff.

Der aus einer jüdischen Familie in Wien stammende Robert Menasse wird ernst, als er daran erinnert, welche Bedeutung Auschwitz für die Gründung und Entwicklung des Europäischen Projekts hat. »Wir war klar, dass die Erinnerung an Auschwitz in einem solchen Roman miterzählt werden muss.« Der erste Kommissionspräsident, der Deutsche Walter Hallstein, habe nicht von ungefähr seine Antrittsrede in Auschwitz gehalten. Jacques Delors und Romano Prodi hätten es ihm später gleichgetan.

Die EU als moralische Instanz, als Garant für die Menschenrechte – da rauf will Menasse hinaus. Er bedauert, dass viele Europäer heute glauben, die EU sei in erster Linie die Schutzmacht multi nationaler Konzerne. »Dieses Missverständnis ist dramatisch.« (GEA)