MÜNSINGEN. In der Kinästhetik wird auf jeden Patienten ganz individuell eingegangen. Das sagt Annemarie Schmidt, Pflegefachkraft im Samariterstift Münsingen und Peer-Tutorin für Kinästhetik, nach knapp zwei Jahren Beschäftigung mit dieser besonderen Lehre von und über Bewegung. Jetzt möchte sie das Wissen von der »guten« Bewegung an ihre Kollegen im Team weitergeben. Sie ist davon überzeugt, dass Menschen auch im Alter und mit Demenz viel Selbstständigkeit behalten können, wenn reaktiviert werde, was an vertrauten Bewegungsmustern noch vorhanden sei.
Es gibt Menschen, die vergessen haben, wie der Löffel zum Mund geführt wird und deshalb nicht mehr allein essen können. Das kann im schlimmsten Fall zur Ernährung mit der Sonde führen. In anderen Fällen sind Menschen bettlägerig, weil sie vergessen haben, wie das Aufstehen geht, oder weil ihnen das Herausheben aus dem Bett unangenehm ist.
Den ganzen Menschen im Blick
Margarete Pellkofer, Pflegedienstleiterin im Samariterstift Münsingen, erinnert sich daran, wie früher Menschen dazu angeleitet wurden, vom Stuhl aufzustehen und sich am Rollator festzuhalten. Heute werden die Bewohner erst genau in Augenschein genommen: »Was kann er/sie noch?« Erst wenn der ganz individuelle Kraftzustand und die Bewegungsfähigkeit festgestellt sind, wird ein Bewegungsablauf besprochen, der ein leichtes und sicheres Aufstehen möglich macht.
Kinästhetik wurde Anfang der 1970er-Jahre von Dr. Lenny Maietta und Dr. Frank Hatch begründet. Sie ist von Erkenntnissen der Verhaltenskybernetik und der humanistischen Psychologie beeinflusst. Das bedeutet: Bei einer Bewegung wird genau danach geschaut, wie die handelnde Person dabei auf welche Weise körperlich belastet wird. Es wird darauf geachtet, welche Bewegung zum Beispiel Schmerzen auslöst. »Das ist ein toller Ansatz«, freut sich Margarete Pellkofer.
Selbstständigkeit erhalten
Als sie vor 30 Jahren in der Pflege angefangen habe, bekamen die Menschen zu essen, zu trinken und wurden gewaschen. Heute geht es darum, ihre Selbstständigkeit zu erhalten. Der ganze Mensch steht dabei im Blickfeld. Was kann er noch, was hat ihm immer Freude bereitet? »Dabei ist es egal, ob er erst die Butter und dann die Marmelade auf das Brot schmiert oder umgekehrt. Hauptsache ist, er hat das Messer in der Hand und tut es eigenständig«, erklärt Annemarie Schmidt.
Die individuelle Sicht auf den Pflegealltag braucht mehr Zeit als die Gestaltung des Alltags nach festgelegten Routinen. »Doch es stimmt nicht, wenn angenommen wird, das sei Zeitverlust«, so die Peer-Tutorin Schmidt. »Wenn nach langer und intensiver Arbeit am Ende ein Senior oder eine Seniorin sich wieder eigenständig aus dem Stuhl erheben kann, dann werden wir Pflegekräfte weniger gebraucht. Am Ende gewinnen wir also Zeit.«
Eingeübte Bewegungsabläufte helfen auch Pflegenden
Die mittels Kinästhetik eingeübten Bewegungsabläufe helfen auch den Pflegenden. Sie brauchen weniger Kraft bei ihren Handgriffen und schonen somit die eigene Gesundheit. »Ich kann schon sagen, dass wir, seit wir Kinästhetik in den Alltag integriert haben, weniger Krankheitsfälle wegen Rückenbeschwerden haben«, erzählt Pellkofer.
Allerdings haben die Kinästhetik-Fachfrauen beobachtet, dass die Arbeit mit bewegungseingeschränkten Menschen und deren Angehörigen Zeit für Auseinandersetzung braucht, die wiederum Verhaltensveränderung auf den Weg bringen kann. Unlängst sei ein betagter Mann für mehrere Monate in Kurzzeitpflege im Haus gewesen. Seine Frau meinte, er sei schwierig zu haben, da er nichts mehr allein könne. »Wir haben mit ihm trainiert und immer und immer wieder dieselben Handlungen ausgeführt. Als er uns verließ, konnte er im Gang allein an der Stange gehen«, erklärt Annemarie Schmidt. Seine Frau hatte ihm das nicht zugetraut und war überrascht.
Kinästhetik-Übungsbett
Nicht weniger beglückend kann es für Menschen sein, wenn sie sich wieder selbst die Nase putzen können. »Wir unterstützen nur beim Rückbesinnen. Dabei wird den Menschen Handgriff für Handgriff angekündigt und erklärt. Dann gibt es kleine körperliche Impulse und Stück für Stück kehrt der Betreute in die ihm noch bekannte Welt zurück.« Diese positive Erfahrung teilt Annemarie Schmidt gern mit ihren Kolleginnen und Kollegen. Im ersten Stock des Samariterstifts Münsingen steht ein Kinästhetik-Übungsbett. Dort können spontan und mit direkten Praxisbezug kinästhetische Handgriffe geübt werden.
Das Kinästhetik-Projekt ist zunächst in sechs Modell-Häusern der Samariterstiftung eingeführt worden, das Samariterstift Münsingen gehört zu den Pionieren. Wissenschaftlich begleitet wurde es von der Hochschule Esslingen und der Fachhochschule Ostschweiz. Die Forschungsergebnisse liegen in Kürze vor. Für weitere acht Häuser der Samariterstiftung steht fest: Sie werden in den kommenden zwei Jahren dasselbe Konzept einführen. (pm)