REUTLINGEN. Es muss der Galgenhumor sein, der Daniela Käs auf die Idee gebracht hat: »Vielleicht wäre ein aufblasbares Auto die Lösung. Da könnte man nach dem Fahren die Luft rauslassen und es mitnehmen.« Der 66-Jährigen ist nämlich eigentlich nicht zum Lachen. In Orschel-Hagen aufgewachsen, lebe sie heute in Bayern, erzählt sie. Doch ihre nun 85 Jahre alte Mutter wohnt noch immer im Haus ihrer Jugend in dem Reutlinger Stadtteil, genauer: in der Nördlinger Straße. Seit 61 Jahren schon, berichtet Daniela Käs. »In einem von drei Häusern, die noch von den Ureinwohnern bewohnt werden.« Er gibt eine Garage dazu, aber die belegt das Auto der 85-Jährigen. Ein Enkel, der nun mit der Seniorin im Haus wohnt, muss sich also einen öffentlichen Parkplatz suchen. Ebenso wie Käs, wenn sie ihre Mama besucht. Da habe sie gar nichts dagegen, betont sie, würde dazu auch ein paar Schritte weit gehen. Allein: Es gebe nirgends im Umkreis ihres elterlichen Hauses legale Parkplätze.
Nachdem sie jüngst gleich drei Tage in Folge ein Knöllchen mit Verwarnungsgeld zugesteckt bekommen hat, das sie selbstredend artig bezahlte, würde sie gern von der Stadtverwaltung wissen: »Wo soll ich überhaupt noch parken?« In Orschel-Hagen sei schlichtweg überall zugeparkt. »Ich möchte nur, dass sich von den zuständigen Behörden das mal einer anschaut«, sagt sie. Sie sei mit ihrem Problem ja sicher nicht allein. Und eine Besserung, sprich Reduzierung der Personenkraftwagen, dürfte in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten sein. Deshalb wendet sie sich mit ihrem Problem nun an die Öffentlichkeit.
»Ich möchte nur, dass sich von den zuständigen Behörden das mal einer anschaut.«
Es gibt dort viele Parkverbote, stellt Daniela Käs fest. Da könnte man einige sicher überdenken. Sie hat schon konkrete Vorschläge: Wenn man vom Laisen her in die Nördlinger Straße einfährt, führe die leicht bergab. »Dort seitlich von den Garagen am letzten Reihenhaus etwa wäre rechts und links Platz für weitere legale Parkflächen«, meint sie.
Wir fragen nach beim Amt für öffentliche Ordnung. Dessen Leiter, Albert Keppler, stimmt der Frau unumwunden zu: »Parken in Orschel-Hagen ist tatsächlich ein Problem.« Gerade die Nördlinger Straße sei davon stark betroffen. Die Ursache sei historisch bedingt: »Orschel-Hagen ist nicht für diese Dichte an Autos gebaut.« In den 1960er-Jahren, als das Gebiet aufgrund akuter Wohnungsnot in sieben Bauabschnitten als »Gartenstadt« geplant und angelegt wurde, hatte nur ein Bruchteil der Reutlinger ein eigenes Auto. Die KFZ-Dichte lag ihm zufolge damals bei weniger als 200 Fahrzeuge je 1000 Einwohnern, heute hingegen bei 700. »Das ist kein Vorwurf«, sagt Keppler. Einfach eine Feststellung.
Die Zahl der Garagen entspreche den damaligen Gegebenheiten. Alles, was im Lauf der Jahre hinzukam, muss im öffentlichen Raum abgestellt werden. Auf ausgewiesenen Parkflächen, entlang der Straßen. An Wochenenden, wenn die Situation ihren Höhepunkt erreicht, indem Besucher wie Frau Käs hinzukommen, aber Bewohner auch Geschäftswagen und Firmentransporter ganztägig in Wohnortnähe abstellen, dann reiht sich an den Straßenrändern selbst im Kurvenbereich Stoßstange an Stoßstange.
Vor allem in den vergangenen Jahren, da die ursprünglichen Bewohner nach und nach in Seniorenheime übersiedelten oder verstarben, und ihre Häuser von jungen Familien übernommen wurden, hat sich dies verschärft. Anders als etwa im Storlach, wo viele Reihenhauseigentümer nachträglich zugunsten von Garagen oder Parkplätzen einen Teil ihrer Gärten opferten, war und ist das bei den quer zur Straße erstellten Häuserzeilen vor allem im östlichen Orschel-Hagen keine Option, erläutert Keppler.
»Dort wird sozusagen zu Lande, zu Wasser und in der Luft geparkt«
Der Amtsleiter macht keinen Hehl daraus, dass in dieser Hinsicht die viel beschworene Verkehrswende tatsächlich not tut. Denn bisher scheint die nicht zu greifen. Zumindest in Reutlingen nicht.
Warum das so ist? »Die Stadt liegt direkt an der Verbindung zum ländlichen Raum«, erklärt Keppler. »Und außer nach Tübingen und Stuttgart haben wir keinen schienengebundenen Nahverkehr.« Die Leute hätten den eigenen Pkw nach wie vor fest eingeplant. »56 Prozent kommen zum Einkaufen immer noch mit’m Auto.« Deshalb: »Die Zukunft liegt für uns alle im Ungewissen.«
Selbst bei sinkender Bevölkerung kämen aktuell pro Jahr 30 neu zugelassene Fahrzeuge hinzu. Die Situation verschärfe sich also weiter. Der Amtsleiter greift zum Vergleich: »Der Siko ist schon am dritten Ring. Der Parkdruck nimmt ständig zu. Dort wird sozusagen zu Lande, zu Wasser und in der Luft geparkt.« Zumal die Fahrzeuge heute mehr Platz brauchen als einst ein VW Käfer oder NSU Prinz. »Die Autos werden immer länger und breiter«, sagt Keppler. Im Vergleich zu einem VW Golf der 1970er-Jahre sei der Golf 7 rund 15 Zentimeter breiter, 20 bis 30 Zentimeter länger und wiege fast das Doppelte. »Das heißt, es klemmt an allen Ecken und Enden.« 2016 habe die Stadt erwogen, zusätzliche Parkflächen zu schaffen, da man sich des Problems durchaus damals schon bewusst war. »Aber davon sahen wir in Absprache mit dem Planungsamt ab.« Denn der Bedarf scheint ein Fass ohne Boden: Wollte man ihn decken, müssten jedes Jahr zusätzlich 540 Quadratmeter – »das ist die Fläche von drei Reihenhäusern« – dafür neu verbraucht und versiegelt werden. »Da würde die Gartenstadt ihren Charakter innerhalb kürzester Zeit verlieren«, gibt Keppler zu bedenken. Und den ökologischen Zielen der Bundes- und Landesregierung sowie der Stadt widerspreche das auch.
Hier können Sie fragen
Sie haben eine Frage oder eine Anregung für ein Thema? Dann schicken Sie diese per E-Mail an
leserfragen@gea.de
Daniela Käs meint, das Ordnungsamt könnte sich das doch mal anschauen – und etwas ändern. »Mich ärgert diese Schwerfälligkeit«, sagt sie. Doch der Behördenchef scheint dankbar für Ideen, die das Dilemma lösen könnten. Er schaut sich ihren Vorschlag gleich auf einem Luftbild an. Wenn im Bereich der von ihr erwähnten Garagenhöfe ein Halteverbot angeordnet sei, habe das sicher einen Grund. Siehe da: »Das rührt von der Straßenbreite her.« Wäre dort Parken erlaubt, kämen Feuerwehr, Müllautos und Möbelwagen nicht mehr durch. Daniela Käs meint, das wäre weiter vorn ja auch schon der Fall - vorausgesetzt die dort geparkten Autos stehen nicht im Halteverbot. Insofern ziehe dieses Argument nicht.
»Mobilität ist auch Einstellungssache. Deshalb wollen wir im Neubaugebiet gezielt Mieter ansprechen, die ein autoarmes Gebiet schätzen«
Doch für Albert Keppler sind Halteverbote nicht das Problem in Orschel-Hagen. »Die ordnen wir da ohnehin sparsam an.« Es gehe vielmehr darum, dass dort einfach der Platz ausgeht. »Eine Lösungsmöglichkeit, an die Viele gar nicht denken, wäre, die eigene Mobilität zu überdenken.« Der ÖPNV sei gerade dort exzellent, zudem gebe es mindestens ein Teilauto-Angebot. Das ließe sich steigern. Grundsätzlich ist er überzeugt: »Mobilität ist auch Einstellungssache.« Deshalb werde das Neubaugebiet »Orschel-Hagen Süd« gezielt als »autoarmes Gebiet« – mit nur einem Stellplatz pro Wohnung – geplant. »Die Stadtverwaltung arbeitet dran, dass es Alternativen gibt zum eigenen Auto.« Viele Arbeitsplätze seien von dort aus gut zu erreichen und die Radanbindung werde gerade ausgebaut. Dadurch versuche man, Mieter und Käufer anzusprechen, die »bereits sind für eine andere Mobilität«. Da sie wissen, dass das sonst auf Kosten der Lebensqualität geht.
»So langsam ist eine Veränderung in der Bevölkerung zu beobachten«, sagt Keppler. Zum Beispiel erfreue sich das Fahr- oder Lastenrad bei Berufspendlern und Eltern, die ihre Kinder zur Kita bringen, steigender Beliebtheit. Das setze natürlich voraus, dass man körperlich dazu in der Lage ist. Das ist bei Daniela Käs' gehbeeinträchtigter Mutter nicht der Fall. Und wenn die Tochter aus Bayern anreist, um die 85-Jährige zu unterstützen, wäre das auch keine Lösung. (GEA)