REUTLINGEN. Baden-Württemberg ist »Streuobstland«. Auch die Stadt Reutlingen scheint fest in Streuobsthand - umgeben von zirka 700 Hektar Streuobstwiesen. Diese Zahl nannte Frank Bader in der jüngsten Sitzung des Bau-, Verkehrs- und Umwelt-Ausschusses (BVUA) des Reutlinger Gemeinderats. Aber wie lange blüht uns an den Apfel-, Birn-, Kirsch-, Zwetschgen- und Mirabellenbäumen noch was? Nicht mehr lang, denn die Nutzung und damit Pflege der Baumbestände lässt nach. Aktuell seien die Bäume rund um das sich gern als Biosphärenstadt titulierende Reutlingen »zum Teil in gutem, zum Teil in nicht so gutem Zustand«. In 30 Jahren werde es von dieser prägenden Kulturlandschaft »keine nennenswerten Vorkommen mehr geben«, sagt Bader voraus. Dabei stützt sich der Leiter des Amts für Tiefbau, Grünflächen und Umwelt der Stadt Reutlingen auf Hochrechnungen der Universität Hohenheim.
Da 90 Prozent der Reutlinger Streuobstwiesen in Privatbesitz sind, appelliert die Stadt nun an Eigentümer und Pächter, dem Schwund entgegenzuwirken. Das »wertvolle Kultur- und Naturgut« soll erhalten bleiben. Auch an Menschen, die noch Streuobstheger und -pfleger werden wollen, richteten sich zuletzt zwei gut besuchte Veranstaltungen, in denen die Stadtverwaltung zusammen mit diversen Experten Förderungs-, Vermarktungs- und Nutzungsmöglichkeiten von Streuobst vorgestellt und über den Stand des städtischen Biotopverbundkonzepts informiert hat. Im innerstädtischen Matthäus-Alber-Haus fanden sich dazu etwa 50 und in der Betzinger Julius-Kemmler-Halle rund 150 Interessierte ein, berichtete Bader im Ausschuss.

Was kann man tun? Das sei dort kontrovers diskutiert worden. Für Bader ergaben sich bislang drei Handlungsfelder, in denen die Stadt aktiv werden kann: Bewirtschaftung und Baumpflege; Obst- und Schnittgutverwertung; Organisation, Marketing und Netzwerken. In ökonomischer wie ökologischer Hinsicht will sie Eigentümer und Pächter unterstützen. Indem sie Interessierte berät.
Die Pflege von Streuobstwiesen sei »anstrengend und arbeitsintensiv«, merkte Friedel Kehrer-Schreiber (FWV) an - umso toller, dass die Stadt das Thema aufgreift. Die Infoabende, die den Auftakt zu weiteren Veranstaltungen bilden, seien sehr gut aufgenommen worden, berichtete die Bezirksbürgermeisterin von Bronnweiler.
Generationenwechsel fördern
Der Rückgang des Bestands ist seit Jahren dramatisch, appellierte Gabriele Janz (Grüne und Unabhängige). Dabei sei dessen Stellenwert gerade im urbanen Umfeld wichtig. Ein Anfang sei nun gemacht. Daran müsse man weiter arbeiten. »Wenn wir die Streuobstwiesen erhalten wollen, müssen wir was machen«, betonte auch FWV-Rat Erich Fritz aus Sickenhausen. Fotos zeigten, wie die Flächen dort immer mehr zurückgehen. Dazu hatte er gleich konkrete Fragen: »Wohin bringe ich das Holz, das ich von den Bäumen schneide? Und das Gras, das ich dort mähe?«
Den Nachwuchsmangel mitzudenken, forderte der junge Grünen-Stadtrat Jaron Immer. Baubürgermeisterin Angela Weiskopf gab zu, »die Haarfarbe auf diesen Veranstaltungen war überwiegend grau«. Auch Gabriele Gaiser (CDU) spricht von einem »enormen Generationenwechsel«, der bei der Bewirtschaftung von Streuobstwiesen anstehe. »Wenn Sie Ihre Baumwiese im Mitteilungsblatt ausschreiben, da meldet sich niemand«, hat die Bezirksbürgermeisterin von Rommelsbach festgestellt. »Oder die Leute nutzen die Streuobstanlagen als Ackerland.« Das liege an der Kosten-Nutzen-Rechnung: So eine Obstwiese zu pflegen sei nun mal »enorm viel Arbeit«.
Versorgung und Artenschutz
Nach dem Krieg waren die Leute froh über ihr eigenes Gütle, erinnert sich Ramazan Selcuk (SPD). Damals diente das eigene Obst zur Versorgung der Familie. Heute gehe es zudem um den Erhalt der Artenvielfalt. Auch wenn der Anteil der städtischen Flächen mit nur zehn Prozent der 700 Hektar klein ist, sprach sich auch er dafür aus, das explizit zu fördern. »Es ist gut, jetzt schon zu agieren und nicht zu warten, bis es zu spät ist.« Seine Orschel-Hagener Fraktionskollegin Edeltraut Stiedl regte an, mit dem Thema an Schulen zu gehen und Streuobst-Patenschaften zu übernehmen.
So düster die Aussichten von Experten für die Zukunft des heimischen Streuobsts auch aussehen, ästhetisch und ökologisch sind sie von unbestrittener Bedeutung. Fehlte nur noch der ökonomische Anreiz. Baubürgermeisterin Weiskopf dankte zunächst »für das positive Feedback und die Anregungen«. (GEA)