REUTLINGEN. Symbolpolitik oder Gebot der Menschlichkeit? Als der Reutlinger Gemeinderat im April 2019 mit 21 zu 15 Stimmen beschloss, dem Bündnis »Sicherer Hafen« beitreten zu wollen, gingen die Meinungen im Gremium weit auseinander. SPD, Linke, Grüne und FDP stimmten zu. CDU, FWV und WiR dagegen. Mit dem Beitritt zum Städte-Bündnis ein halbes Jahr später erklärte sich die Stadt dann offiziell bereit dazu, zusätzlich zur Verteilquote des Landes aus Seenot gerettete Flüchtlinge aufzunehmen. Nun hat die AfD beantragt, diese Mitgliedschaft im Bündnis wieder zu kündigen.
Fakt ist: Die Mitgliedschaft ist reine Symbolpolitik. »Durch die Mitgliedschaft wurde von der Stadt Reutlingen kein Mensch mehr aufgenommen«, heißt es nun, mehr als fünf Jahre später, aus der Pressestelle des Rathauses auf GEA-Anfrage. Ob Reutlingen also Mitglied ist oder nicht, spielt für den alltäglichen Umgang mit Flüchtlingen offenbar keine Rolle. Was der AfD-Fraktionsvorsitzende Hansjörg Schrade mit seinem Antrag vielmehr versucht, ist die sogenannte »Brandmauer« auf lokaler Ebene zum Einsturz zu bringen. Also die Parteien dazu zu bringen, entweder mit der AfD zu stimmen. Oder gegen ihre damals, im April 2019 geäußerten Überzeugungen zu handeln.
»Durch die Mitgliedschaft wurde von der Stadt Reutlingen kein Mensch mehr aufgenommen«
In der CDU-Fraktion (9 Sitze) ist man sich der Brisanz der Sache durchaus bewusst. Und so wird sich die Fraktion am 17. Februar, also eine Woche vor der Abstimmung im Gemeinderat, mit den Verantwortlichen des »Sicheren Hafens« auf lokaler Ebene treffen. Die neue Fraktion habe das Thema nach der Kommunalwahl noch nicht besprochen, sagt die Fraktionsvorsitzende Gabriele Gaiser. Man wolle sich nun einen Überblick verschaffen, »und dann werden wir darüber sprechen, wie wir abstimmen«. Generell definiere man die Brandmauer so: »Wir gehen unseren Weg und stellen unsere Themen zur Abstimmung. Dann kann mitstimmen, wer es für richtig hält«, so Gaiser. »Es ist nämlich keine Lösung ein Thema nicht aufzugreifen aus Sorge, die AfD könnte mitstimmen.« Heißt im Subtext aber wohl auch: AfD-Anträgen wird man nicht zustimmen. Damit liegt die Reutlinger CDU bei der Brandmauer-Definition ganz auf Linie des Bundesvorsitzenden Friedrich Merz.
Die Freie Wähler-Vereinigung (5 Sitze) - damals noch gegen den Beitritt zum »Sicheren Hafen« - hält den AfD-Vorstoß nun für »sowas von unnötig«, wie der Fraktionsvorsitzende Georg Leitenberger sagt. »Die Entscheidung zum Beitritt wurde getroffen und das respektieren wir nun auch.« Außerdem sei »der politische Schaden bundesweit für Reutlingen« enorm hoch, wenn man nun aus dem Bündnis austreten würde. Die Brandmauer sei für die FWV ganz klar: »Wir stimmen keinem AfD-Antrag zu.«
»Wieso soll man einem AfD-Antrag denn nicht zustimmen, wenn man ihn für richtig hält?«
Der WiR-Fraktionsvorsitzende Prof. Dr. Jürgen Straub hat persönlich eine pragmatischere Sicht auf die Brandmauer: »Wieso soll man einem AfD-Antrag denn nicht zustimmen, wenn man ihn für richtig hält?« Wie man konkret mit dem »Sicheren Hafen«-Thema umgehe, müsse man noch in der nächsten Fraktionssitzung besprechen. Auch das Brandmauer-Thema generell werde da sicher nochmal zur Sprache kommen. Schließlich habe die WiR-Fraktion (3 Sitze) seit der Kommunalwahl eine neue Zusammensetzung. »Aber von meiner persönlichen Seite aus bleibt die Entscheidung von 2019.«
AfD-Mann Schrade hätte über den Antrag gerne in der Sitzung des Gemeinderats am Donnerstag, 30. Januar abgestimmt. Auf der Tagesordnung steht er nun aber erst am Dienstag, 25. Februar. Schrade vermutet dahinter politisches Kalkül. Er wirft Oberbürgermeister Thomas Keck vor, die zu erwartende Brandmauer-Diskussion auf nach der Bundestagswahl verschieben zu wollen. Außerdem sieht er einen Bruch geltenden Rechts. Da er den Antrag schon am 13. Dezember eingereicht hat, hätte er nun in der Januar-Sitzung behandelt werden müssen, sagt Schrade - also in der »übernächsten Sitzung«. Aus dem Rathaus heißt es dagegen, man befinde sich »im rechtlichen Rahmen der gesetzlichen Fristen«. In der Gemeinderatssitzung vom 17. Dezember hätte man den Antrag »unter Beachtung der gesetzlichen Fristen« gar nicht mehr auf die Tagesordnung setzen können. Somit ist der 25. Februar per Definition der »übernächste« mögliche Termin.
»Die AfD hätte über fünf Jahre Zeit gehabt, einen entsprechenden Antrag zu stellen«
Außerdem könne man auch keine »besondere Eilbedürftigkeit erkennen«, heißt es aus der Rathaus-Pressestelle weiter. Schließlich seit Reutlingen dem Bündnis »Sicherer Hafen« 2019 beigetreten. Und die AfD sei seit diesem Jahr auch im Gemeinderat. Sie hätte also »über fünf Jahre Zeit gehabt, einen entsprechenden Antrag zu stellen«. (GEA)