REUTLINGEN. Kurze Beine, kurze Wege: Diese Maxime, was die Platzvergabe in Kinderkrippen und -gärten angeht, gilt schon seit langem nicht mehr. Heute können Eltern froh sein, wenn ihr Kind überhaupt einen Betreuungsplatz bekommt und nicht erst auf einer Warteliste ausharren muss. Landauf, landab fehlt es nämlich an Fachkräften, und nicht mal der gesetzliche Anspruch auf einen Platz kann von Kommunen immer schnell und flächendeckend erfüllt werden. Daher müssen sie zum einen eine Auswahl treffen und zweitens Kinder über weitere Gebiete verteilen, nicht nach dem Ortsprinzip.
Die Vergabepraxis der Betreuungsplätze in Reutlingen wurde kürzlich im Sickenhausener Bezirksgemeinderat thematisiert und auch kritisiert. »Einige Eltern sind ziemlich verschnupft«, bestätigt Bezirksgemeinderat Roland Jetter auf Nachfrage des GEA, »es kann einfach nicht sein, dass Kinder aus Sickenhausen keinen Kindergartenplatz am Ort bekommen, sondern nach Oferdingen oder Ohmenhausen müssen.« Oft stelle dies Familien vor zusätzliche Herausforderungen, beispielsweise, wenn die Großeltern die Kinder abholen sollen und dies nicht mal kurz zu Fuß möglich ist, sondern die Kleinen im Auto durch die Lande kutschiert werden müssen. Auch die Bildung von Freundschaften innerhalb des Orts werde für die Kinder schwieriger, wenn sie einen Kindergarten außerhalb besuchen, so ein weiteres Argument, das durchaus logisch ist.
Der Ärger der Eltern ist verständlich
»Ich verstehe den Ärger der Leute«, sagt auch Reutlingens Sozialamtsleiter Joachim Haas. Ihm ist klar, dass die Platzvergabe in Kindertageseinrichtungen ein Thema sei, das oft und mitunter recht emotional diskutiert wird. Schnell wird die Verantwortung für negative Entwicklungen dem Verteilungssystem zugeschrieben, das es in Reutlingen seit vielen Jahren gibt - »AnKeR« heißt es, das ist die Abkürzung für »Anlaufstelle Kindertagesbetreuung Reutlingen«. Dem widerspricht Haas jedoch: »Das System selber läuft seit Jahren gut, es ist ein erprobtes Verfahren.«
Dass die Eltern trotzdem öfters nicht mit dem Ergebnis zufrieden sind, habe aber andere Ursachen. Früher, blickt Haas zurück, war es so, dass es schlicht und einfach zu wenig Plätze gab. Diese wurden im Lauf der vergangenen Jahre ausgebaut und werden es weiterhin: 454 Plätze sollen zwischen 2023 und 2026 zusätzlich in Betrieb gehen und den steigenden Bedarf decken. Allerdings können bei weitem nicht alle Plätze belegt werden, weil es an Fachkräften fehlt.
14 Prozent der Stellen sind unbesetzt
Bei allen Trägern habe sich die Situation massiv zugespitzt, so steht es in der Bedarfsplanung für das laufende Jahr: »Im Schnitt sind 14 Prozent der Stellen unbesetzt, das entspricht etwa 99 Vollzeitstellen.« Das führt immer wieder dazu, dass manche Kinder erst einmal auf der Warteliste landen. Mit ausreichend Personal könnte ein Großteil von ihnen versorgt werden, erklärt Haas. Allerdings - auch das nicht immer wohnortnah.
Diese Thematik hängt tatsächlich manchmal mit dem AnKeR zusammen, der folgendermaßen funktioniert. Der Ausgangspunkt des Systems ist, dass es ein gemeinsames Anmeldeverfahren für alle Kindergartenträger gibt, egal ob städtisch, kirchlich oder frei, bei dem sich Eltern nur einmal anmelden müssen. Früher mussten die Eltern sich in jedem Kindergarten, der für sie in Frage kam, extra anmelden. »Sie liefen dafür von Pontius zu Pilatus«, blickt Haas zurück. Das wollte man vereinfachen.
Zudem hatten die Einrichtungen keinen Überblick darüber, ob in anderen Institutionen noch Plätze frei sind und wie viele Kinder noch auf einen Platz warten. Das ist der große Vorteil des zentralen Systems, vor allem, weil in Reutlingen alle Träger mit im Boot sind - »das ist schon etwas Besonderes«, betont Haas.
Es gilt das Punktesystem
Verteilt werden die Plätze dann nach einem Punktesystem: Oberstes Kriterium ist die Berufstätigkeit. So gibt es beispielsweise fünf Punkte, wenn ein Elternteil arbeitet, zehn, wenn beide berufstätig sind und elf für Alleinerziehende - eine Bevorzugung, die laut Sozialgesetzgebung vorgeschrieben ist. »Der Gesetzgeber hat sich schon etwas dabei gedacht«, erklärt Haas, »beide Eltern sollten arbeiten können, wenn sie dies wollen oder müssen«. Immer öfter reicht ein Einkommen nicht mehr aus, auch der Anteil der Alleinstehenden steigt - sie sind dringend auf Betreuung angewiesen, während sie arbeiten. Weitere Gründe, die glücklicherweise eher selten vorkommen, sind, wenn Kinder in schwierigen Verhältnissen leben oder sogar eine Kindeswohlgefährdung möglich ist - sie bekommen immer einen Betreuungsplatz. Was nicht zählt, ist die Nähe zum Wohnort.
Zurück zum Verteilsystem: Eltern dürfen bei ihrer Anmeldung drei Wünsche angeben, wo ihr Kind unterkommen soll. Oft sind es Einrichtungen, die am Ort sind, die passende Öffnungszeiten haben, die auf dem Weg zur Arbeit liegen, von denen die Eltern schon Gutes gehört haben oder deren Konzept ihnen zusagt. Anders als bei Schulen, sind Eltern bei der Wahl von Kita oder Kindergarten jedoch nicht an einen Bezirk gebunden, erklärt Haas, hier steht das komplette Stadtgebiet zur Auswahl. »Das ist die Wahlfreiheit der Eltern«, und die könne man nicht steuern. Dadurch kann es dann eben passieren, dass manche Kinder nicht die Einrichtung an ihrem Wohnort besuchen können, obwohl sie dies gerne würden und andere sogar auf der Warteliste stehen.
Höchstens ein Jahr Wartezeit
Gänzlich auf einen Kindergartenbesuch verzichten muss aber kein Kind in Reutlingen, betont der Sozialamtsleiter. Denn es gebe das politische Versprechen des Gemeinderats, dass die Kinder, die nicht gleich zum Zug kommen, spätestens ein Jahr später einen Platz bekommen. Zudem können Kinder, die drei Jahre sind, bis zu einem Jahr später von der Kita in den Kindergarten wechseln. Auch so können Platzpuffer geschaffen werden.
Die Bedarfsplanungen in der Kinderbetreuung seien eine Herausforderung, sagt Haas, aber sie seien keine Katastrophe - »ich will optimistisch bleiben«. Die Stadt bilde nach Kräften neue Erzieherinnen und Erzieher aus, das Image des Berufs werde immer besser und der Gemeinderat unterstütze die Arbeit gut. Für diejenigen, die pendeln müssen und aktuell keinen Platz an ihrem Wohnort bekommen, ist das freilich nur ein schwacher Trost. (GEA)