REUTLINGEN. »Jetzt haben die mir mein Handy geklaut, sind die noch recht im Kopf?«, schreit eine Frau im Parka durch die Reutlinger Wilhelmstraße. Da sie sich so lautstark ärgert, schütteln Passanten, die ihr an jenem bitterkalten Novembertag begegnen, verständnislos den Kopf. »Da war noch zehn Euro Guthaben drauf. Das ist viel Geld für mich«, krakeelt sie weiter. Kurz zuvor hat Pfarrer Dr. Joachim Rückle in der Nikolaikirche die Vorbereitungen für die nächste Reutlinger Vesperkirche vorgestellt. Thema: »Armut und Gesundheit«. Es gebe vermehrt »ganz viel verschämte Armut«, sagt der Geschäftsführer des Diakonieverbands Reutlingen, dem Träger dieser ökumenischen Initiative der christlichen Kirchen.
Verschämt verhält sich die kleine Frau mit Rucksack und Wollmütze in der Fußgängerzone nicht - sonst bliebe auch ihre Not im Verborgenen. Nicht nur Obdachlose, sondern auch Menschen wie sie, die sich eventuell nicht mal mehr ein Busticket leisten können und für die der Verlust des Smartphones eine unüberbrückbare Katastrophe darstellt, wollen die Organisatoren der Vesperkirche bald wieder mit ihrem Angebot unterstützen. Alle sollen sich dabei an einen Tisch setzen. Da inzwischen »Mobilität für viele einfach zu teuer ist«, will das Leitungsteam diesmal kostenlose Bustickets »umfangreicher organisieren«, kündigt Rückle an.
»Wir wollen keine Armenspeisung, sondern ein Begegnungsort sein für Menschen, die sonst wenig Berührungspunkte haben«
Von 12. Januar bis 9. Februar 2025 sind die Pforten der Nikolaikirche zur 28. Vesperkirchensaison geöffnet, und zwar täglich von 11 bis 13.30 Uhr. Besonders sei die Situation dieses Mal, »da die letzte Vesperkirche so gut gelaufen ist«, sagt Pfarrer Rückle. Trotz der Jahreszeit, die für hohe Krankenstände berüchtigt ist, gab es keinen Stress. »So soll es wieder werden.« Mit ihm sind Sabine Lehmkühler, Birgit Hövel und Birgit von Vacano im Leitungsteam. »Aufgrund der nach wie vor sehr hohen Lebenshaltungskosten« rechnen sie mit mehr als 10.000 Essensgästen.
Ausdrücklich sind dennoch nicht nur Bedürftige eingeladen. »Die Vesperkirche will keine Armenspeisung sein, sondern ein Begegnungs- und Willkommensort für reiche und arme Menschen, die sonst wenig Berührungspunkte haben«, erklären sie. »Auch die Stadtgesellschaft soll sich angesprochen fühlen«, sagt Birgit Hövel. Ohne Angst, jemandem den Platz wegzunehmen. Das Vesperkirchencafé in der Unteren Gerberstraße habe sich bewährt und soll - täglich bis 14 Uhr - die Nachfrage in der Nikolaikirche entzerren.
Hövel unterstützt als Pfarrerin im Ruhestand den Vesperkirchenpfarrer Jörg Mutschler. Karen Brudar ist als Sozialberaterin mit von der Partie, Ärzte und ein Friseur sind vor Ort. Dazu sind jedes Jahr vier Wochen lang mehr als 300 Ehrenamtliche im Einsatz. Das Mithelfen »macht Freude und wirkt sich aus«, glaubt Hövel. Sabine Lehmkühler koordiniert die Helfer. »Der Anmeldebrief ist raus«, sagt sie. Derzeit komme reichlich Rücklauf. »Einige wenige Ehrenamtliche werden aber noch gesucht« - über die Homepage der Vesperkirche. Auch Kuchenspenden sind willkommen. Selbstgebackenes werde hochgeschätzt und kann während der Vesperkirchenzeit unbürokratisch ab 9 Uhr am hinteren Eingang am Nikolaiplatz abgegeben werden.
Das Team ist optimistisch, dass auch ohne Vesperkirchen-Urgestein Ulrich Soulier alles klappt. Da jedoch die Bruderhaus-Küche derzeit umgebaut wird, gibt es bei der nächsten Vesperkirche keine Suppen. Finanziert wird die Aktion ausschließlich über Geld- und Sachspenden. Durch allgemeine Kostensteigerungen gehen die Organisatoren diesmal von rund 150.000 Euro an Gesamtausgaben aus.
In der Vesperkirche braucht sich niemand das Elend von der Seele brüllen. Auch wer still vor sich hin leidet, weil er oder sie nicht über die Runden kommt, findet dort eine offene Tür, Raum zum Aufwärmen, warme Mahlzeiten und Ansprache. »Hier und drüben im Café soll jeder Willkommen und Gast sein«, sagt Pfarrer Rückle. (GEA)
www.reutlinger-vesperkirche.de
Termine rund um die Reutlinger Vesperkirche 2025
Gottesdienste: Sonntag, 12. Januar, 10 Uhr - Eröffnungsgottedienst mit Prälat Markus Schoch; Sonntag, 9. Februar, 15 Uhr - Schlussgottesdienst mit Pfarrerin i.R. Birgit Hövel
Kulturprogamm: Donnerstag, 16. Januar, 19 Uhr - Konzert Reutlinger University Big Band; Montag, 20. Januar, 19 Uhr - Vortrag Prof. Dr. Gerhard Trabert »Armut macht krank - Krankheit macht arm«; Samstag, 25. Januar, 16 Uhr: Kindertheater Patati-Patata »Alex und die gelbe Maus«, ab 3 Jahren; Donnerstag, 30. Januar, 19 Uhr: Tante Friedas Jazzkränzchen; Donnerstag, 6. Februar, 19 Uhr: Mundartgesellschaft Württemberg »Der Mensch für Menschen« mit Jörg Beirer, Verena Evard, Steffi Leib und Jeanette Rzyski-Knab.
All diese Benefizveranstaltungen sind in der Nikolaikirche. Der Eintritt ist frei. Spenden für die Vesperkirche sind willkommen. (dia)