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Warum Armut auch in Reutlingen krank und Krankheit arm macht

Bei einem Themenabend in der Vesperkirche heben lokale und regionale Experten die Wechselwirkung zwischen Krankheit und Armut hervor. Dabei kommen ein Arzt, eine Beraterin, ein Fachmann für Gesundheitspolitik im Kreis Reutlingen und Betroffene zu Wort.

Veranstalter und Interviewpartner zum Abschluss des Themenabends »Armut und Gesundheit« in der Reutlinger Vesperkirche, von link
Veranstalter und Interviewpartner zum Abschluss des Themenabends »Armut und Gesundheit« in der Reutlinger Vesperkirche, von links: Susanne Kirschbaum vom Vesperkirchen-Leitungskreis, Gesundheitspolitik-Experte Friedemann Salzer, der Arzt Kurt Gugel, der Geschäftsführer des Diakonieverbands Pfarrer Joachim Rückle, die beiden Betroffenen Andrea Fiez und Esther Leibbrand sowie Andrea Meyle vom Diakonieverband. Foto: Claudia Reicherter
Veranstalter und Interviewpartner zum Abschluss des Themenabends »Armut und Gesundheit« in der Reutlinger Vesperkirche, von links: Susanne Kirschbaum vom Vesperkirchen-Leitungskreis, Gesundheitspolitik-Experte Friedemann Salzer, der Arzt Kurt Gugel, der Geschäftsführer des Diakonieverbands Pfarrer Joachim Rückle, die beiden Betroffenen Andrea Fiez und Esther Leibbrand sowie Andrea Meyle vom Diakonieverband.
Foto: Claudia Reicherter

REUTLINGEN. Zum Themenabend »Armut macht krank - Krankheit macht arm« hatte die Reutlinger Vesperkirche einen renommierten Experten eingeladen. Doch der deutschlandweit bekannte Sozialmediziner Professor Dr. Gerhard Trabert, seit Jahrzehnten bemüht ist, öffentliche Aufmerksamkeit auf genau diesen Zusammenhang zu lenken, war zum 20. Januar selbst erkrankt und musste den Termin absagen. Der Leitungskreis der Vesperkirche um Diakonieverbands-Geschäftsführer Pfarrer Joachim Rückle, Vesperkirchenpfarrerin Birgit Hövel und Susanne Kirschbaum wollten das Thema aber nicht unter den Tisch fallen lassen. Sondern planten kurzerhand um: Sie organisierten stattdessen für Montagabend Interviews mit fünf lokalen und regionalen Experten, darunter auch Betroffenen, die diesen Missstand von ganz unterschiedlichen Seiten beleuchteten.

Ein paar Zahlen zum Thema

1,5 Milliarden Menschen auf der Erde sind von armutsassoziierten Krankheiten betroffen, berichtete Pfarrer Rückle zur Einführung in dieses »nicht ganz einfache Thema«. Als »große Drei« gelten Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Malaria und Aids. Die finden sich vorrangig in der sogenannten Dritten Welt. Bei uns gehören zu den armutsassoziierten Erkrankungen Diabetes, chronische Magen-Darm-Beschwerden, Krebs, psychische sowie Koronarerkrankungen, zählte Rückle auf. Überhaupt »alles, was mit dem Herzen zu tun hat«.

Bluthochdruck betreffe 71 Prozent mehr unter Armut leidende Menschen als andere. Schlaganfälle erleiden im Schnitt 0,3 Prozent der Menschen, bei Armen sind es 4,9 Prozent. 16 Mal mehr also. Eine finanziell prekäre Lage etwa durch Langzeitarbeitslosigkeit verringert die Lebenserwartung bei Männern um durchschnittlich acht Jahre und bei Frauen um 4,5. Viele Faktoren spielen da mit hinein, doch es lohne sich, der Frage nachzugehen: Ist das Zufall? »Oder gibt es Stellschrauben, die den Unterschied machen?«

Zwei Betroffene

Andrea Fiez kennt Pfarrer Rückle von der Reutlinger Tafel, wo sie einst als Zwei-Euro-Jobberin angestellt war. Sie hat keine Ausbildung, war nach einer Trennung alleinerziehend und nach dem Verkauf der Firma, bei der sie gearbeitet hatte, lange Zeit arbeitslos. Schon bevor sie ernsthaft krank wurde, hat sie 800 Bewerbungen geschrieben - ohne Erfolg, berichtet sie. Das sei belastend. Nachdem zwischen 2013 und 2017 eine Nierenerkrankung mit insgesamt 27 OPs dazugekommen war, »lohnt es sich nicht mehr etwas zu suchen«. Ihre rechte Niere bringt nur noch 10 Prozent Leistung, die linke 35. Dennoch sagt sie: »Ich möchte das Leben jetzt leben!« Hartz IV rege sie dermaßen auf, dass sie immer versucht habe, da rauszukommen. Geklappt hat es nicht. Was ihr hilft? »Das weiß ich noch nicht so genau«, sagt sie. Freunde, ihre beiden Töchter. Und das Miteinander bei der Tafel sei gut.

Erwerbsunfähig: Esther Leibbrand steht beim  Themenabend zu Armut und Gesundheit in der Reutlinger Vesperkirche den Fragen von P
Erwerbsunfähig: Esther Leibbrand steht beim Themenabend zu Armut und Gesundheit in der Reutlinger Vesperkirche den Fragen von Pfarrer Joachim Rückle ganz offen Rede und Antwort. Foto: Claudia Reicherter
Erwerbsunfähig: Esther Leibbrand steht beim Themenabend zu Armut und Gesundheit in der Reutlinger Vesperkirche den Fragen von Pfarrer Joachim Rückle ganz offen Rede und Antwort.
Foto: Claudia Reicherter

Auch Esther Leibbrand (55) spricht ganz offen über das, was sie belastet. »Ich bin finanziell nicht gut gestellt.« Nachdem sie ihre Karriere als Leistungssportlerin im Tennis 1996 beendet hatte, erlitt sie schon 1997 als Studentin einen ersten Psychose-Schub. Dennoch legte sie an der Uni Tübingen das Erste Staatsexamen in Italienisch und Spanisch ab und kann damit heute zumindest teilweise als Sprach- und Tennislehrerin arbeiten. Doch schon der erste Job war damals nur eine Zeitarbeit, berichtet sie. »2014 hat's mich umgehauen«, sagt die Reutlingerin geradeheraus. Nach Medikamentenumstellungen und mehreren freiwilligen oder Zwangseinweisungen in die Psychiatrie konnte sie nicht mehr regelmäßig arbeiten. Seit 2018 erhält sie eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Ihr ist wichtig, ihre Tage zu strukturieren. Deshalb ist sie ehrenamtlich tätig. Durchs ambulant betreute Wohnen könne sie »im Moment nicht klagen«. Zumal die Vesperkirche auch mit ihrem Café Gerber ein »super Angebot« sei. »Dass thematisiert wird, dass es zwischen Krankheit und Armut einen Zusammenhang gibt«, tue schon gut.

Eine Beraterin

Andrea Meyle aus Pliezhausen ist seit sechs Jahren in der Fachstelle Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) des Diakonieverbands Reutlingen tätig. »Drei Viertel der Menschen, die bei mir Rat suchen, brauchen in irgendeiner Form Sozialleistungen«, berichtet sie. Der Grad der Armut hänge davon ab, ob es einen berufstätigen Partner gibt. »Und davon, wie lange die Krankheit schon dauert.« Ganz viele Faktoren spielten da mit. »Auch der Kampf ist unterschiedlich.« Manchmal stürzt einen jeder Brief vom Jobcenter in die psychische Krise. Viele haben Angst, einen Brief zu öffnen. Und oft dauert es lange, »bis sie uns finden«, erzählt sie. Ihre Erfahrung zeigt: Wenn ein Familienmitglied krank oder behindert ist, sei es ein Elternteil, das Kind oder der Partner, zieht das einen Rattenschwanz hinter sich her. Das Einkommen wird ganz schnell weniger.

Die Sorge belastet, die Pflege erfordert einen Spagat. »Unbeschwertheit fällt weg.« Je weniger Geld da ist, desto kleiner die Wohnung und desto öfter nicht barrierefrei. Dazu kommt: »Je enger es ist, desto mehr knallt's«. Wie sie helfen kann? »Wir gucken erstmal, wo Unterstützung herkommen kann. Viele schämen sich, zum Krankengeld, das hinten und vorn nicht reicht, noch Bürgergeld zu beantragen.« Die Beratungsstelle zeige in solch komplexen, unübersichtlichen Lagen »Wege im Dschungel« auf, lobt Pfarrer Rückle. »Das macht einen Unterschied für den Einzelnen.«

Der Arzt

Kurt Gugel war mehr als 30 Jahre lang Hausarzt im Stadtteil Storlach. Seit Ende 2019 ist er im Ruhestand und seitdem als Arzt bei der Vesperkirche aktiv. Ob ein Mensch von Armut betroffen ist, merke der Mediziner schon am Gebiss, sagt er. Dem Hausarzt bleiben Notstände durch die meist langjährige Begleitung der Patienten nicht verborgen. Angebote gebe es »grad' g'nug«. Aber: »Man müsste die Leute an die Hand nehmen.« Denn vieles werde nicht wahrgenommen. Aus Unwissenheit oder Scham. Impfungen zum Beispiel oder Adipositas-Beratungen für Kinder. »Das zieht sich bei Familien durch«, so seine Erfahrung. Und: »Viele Klischees stimmen, leider.« Gugel lobt Initiativen der Quartiersarbeit. Ein guter Ansatz sei zudem, bei den Kindern anzufangen. »Die sind unvoreingenommen. Wenn man sie einlädt, gelingt vielleicht auch der Kontakt zu den Eltern.« Generell plädiert er dafür, positiv zu denken und auf andere zuzugehen.

Ein gesundheitspolitischer Fachmann

Friedemann Salzer hat sich als Diakon, Grünen-Kreisrat, ehemaliger Geschäftsführer der Kreiskliniken Reutlingen und von 2020 bis 2024 Projektkoordinator des innovativen Gesundheitszentrums »Port« in Hohenstein-Bernloch »an vielen Stellen Gedanken gemacht«. Er blickt an jenem Abend vor allem auf den politischen Aspekt. »Deutschland hat mit Abstand das solidarischste Gesundheitssystem«, betont er. Dennoch würden Menschen benachteiligt, die krank sind. Den Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit nennt er »ein Armutszeugnis«. An Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbachs Bemühungen lobt er, dass die Budget-Deckelung niedergelassener Ärzte aufgehoben wurde. Seine Kritik: dass Krankmacher wie Glyphosat noch erlaubt sind, dies löse Asthma und Parkinson aus. Zudem gebe es im Land zu viele Kliniken: »Es geht nicht, dass jedes Krankenhäusle alles macht.« Er plädiert für Zentralkliniken und nach skandinavischem Vorbild eine Bürgerversicherung, die kosten- und bürokratieintensive private und gesetzliche Krankenkassen ersetze. »Ich wünsche mir einen niederschwelligen Zugang zum Gesundheitssystem, ohne dass man besonders clever sein muss.«

Die Zuschauer

Bewegung, frische Luft, Spazierengehen, eine intakte Umwelt und Zuhören - alles Dinge, die kein oder wenig Geld kosten und Betroffenen von Armut und Krankheit helfen. So fasst der Moderator des Abends, Pfarrer Joachim Rückle, die Vorschläge der Zuschauer zusammen. Auch Bildung sei »wahnsinnig wichtig«, und in dieser Hinsicht Zeitungen, online oder ausgedruckt. (GEA)