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Aktuell Notlage

Vortragsabend über die Lage in Afghanistan in der Reutlinger Marienkirche

Der Journalist Wolfgang Bauer und zwei Evakuierte berichten über die Situation in Afghanistan

Der Journalist Wolfgang Bauer hat die Luftbrücke von Kabul mit ins Leben gerufen.  FOTO: SPIESS
Der Journalist Wolfgang Bauer hat die Luftbrücke von Kabul mit ins Leben gerufen. Foto: Jürgen Spieß
Der Journalist Wolfgang Bauer hat die Luftbrücke von Kabul mit ins Leben gerufen.
Foto: Jürgen Spieß

REUTLINGEN. Afghanistan darf nicht in Vergessenheit geraten: Am Dienstag luden die Neue Marienkirchengemeinde, das Asylpfarramt, die Seebrücke, der Arbeitskreis (AK) Flüchtlinge und der Verein Solidarity für Afghanistan zu einem Vortragsabend mit dem Reutlinger Zeit-Reporter Wolfgang Bauer in die Marienkirche. Eindrücklich war nicht nur sein Vortrag, sondern auch die Ausführungen seines Dolmetschers und einer jungen Afghanin, denen Bauer zur Flucht verholfen hatte.

Menschen und deren Lebensgeschichten unter oftmals schwierigsten Bedingungen sind der Motor für das journalistische Interesse von Wolfgang Bauer. Auch aus Afghanistan berichtet er seit über 20 Jahren, hat in der Zeit der Machtübernahme der Taliban mit Menschen gesprochen und die Luftbrücke von Kabul mit ins Leben gerufen.

Nach einer kurzen Einführung und Begrüßung von Asylpfarrerin Ines Fischer gab Bauer einen Überblick über die aktuelle politische Situation nach der Machtübernahme durch die Taliban und über die humanitäre Katastrophe, die sich derzeit am Hindukusch abspielt. Es gebe keine Arbeit, ein Großteil der Bevölkerung leide an Hunger und könne nicht mal für das Lebensnotwendigste sorgen.

Bereits ein Jahr vor der Einnahme Afghanistans war Bauer auf geheimer Mission mit den Taliban unterwegs und bekam einen Eindruck davon, was ihre Herrschaft für das Land bedeuten könnte: »In ihren Augen war nur Hass zu sehen und sie hatten keinen blassen Schimmer davon, wie sie das Land regieren sollen.« Auch die alte Regierung sei korrupt und bestechlich gewesen, aber mit den Taliban an der Macht »droht das Land in einen islamisch-faschistischen Staat abzugleiten«, so der Journalist. Die nächsten Monate würden entscheiden, ob sich die Taliban an der Macht halten können oder ob das Land in einem weiteren Bürgerkrieg versinkt.

Mitarbeiter wurde erschossen

Erst vor wenigen Monaten ist Bauers langjähriger Mitarbeiter und Freund Amdadullah Hamdard nur wenige Meter von seinem Haus entfernt in Dschalalabad von den Taliban erschossen worden. Bei vielen Zeit-Recherchen hat er ihn begleitet, hat Kontakte zu jenen Leuten vermittelt, die über die entscheidenden Informationen verfügen. Amdadullah stand auf der Todesliste der Radikalislamisten, weil er Englisch sprach und sich als Dolmetscher von den US-Truppen anheuern ließ, weil er von der Ankunft des Westens fasziniert war und »Diplomatie zwischen verfeindeten Parteien betrieb, ohne sich je von einer Seite vereinnahmen zu lassen«.

Seiner Witwe und den vier Kindern verhalf Bauer ebenso zur Flucht nach Deutschland wie seinem Dolmetscher und dessen Familie. Der Mann, der seinen Namen nicht in der Öffentlichkeit sehen möchte, lebt seit einigen Wochen in Reutlingen und berichtete in der Marienkirche über seine dramatische Flucht. 48 Stunden mussten er und seine Familie in einem Bus ausharren, der sie schließlich zum Flughafen nach Kabul brachte: »Es gab viele Momente, in denen wir dachten, unser Leben ist zu Ende«, schilderte er die dramatische Evakuierung.

Die Geschichte Afghanistans sei voll von Tragödien und er könne kaum beschreiben, »was ich für schreckliche Grausamkeiten der Taliban erlebt habe«, übersetzte Ines Fischer die Ausführungen des Mannes: »Sie ermorden alte Stammesführer und jeden, der vorher etwas zu sagen hatte und auch in mir sahen sie einen Verräter, der den Tod verdient habe.«

Noch mehr mit den Tränen zu kämpfen hatte im Anschluss die erst 20-jährige Afghanin, die im selben Flugzeug nach Deutschland einen Platz ergatterte. Sie floh von Kandahar nach Kabul, wurde von Talibankämpfern mit dem Messer attackiert und hätte sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können, dass sie es je bis nach Deutschland schaffen würde: »Jetzt habe ich Frieden, kann alleine einkaufen und ausgehen und endlich ohne Angst Fußball spielen.« (GEA)