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Von Keim bis Breuninger: Ende einer Ära in Reutlingen

Am Samstag zieht sich der Stuttgarter Modekonzern Breuninger aus der Innenstadt von Reutlingen zurück und beendet damit eine bewegte Kaufhausgeschichte am Marktplatz. Ein Rückblick.

Foto: Steffen Schanz
Foto: Steffen Schanz

REUTLINGEN. Im April 1998 wurde mit einem Ballon und Schampus auf dem Reutlinger Marktplatz groß gefeiert: »Seit gestern heißt das Modehaus Keim am Marktplatz Breuninger und feiert seinen stolzen Namen bis Samstag mit Aktionen am laufenden Band«, schrieb da der GEA. Hinter Absperrgittern auf dem Foto mit der halbaufgeblasenen Hülle neben einem für die Champagnertaufe vorbereiteten Stehtisch drängt sich eine Menge Menschen. Im Hintergrund das schmucke Kaufhausgebäude in der Wilhelmstraße 75/79. Aus dem einstigen Knapp und späteren Keim am Reutlinger Marktplatz war Breuninger geworden.

Nun jedoch ist die Luft raus: Am Samstag, 30. November, schließt der Konzern nach seinem Sportmoden-Geschäft in der Metzgerstraße - wie im März angekündigt - auch seine große Filiale im Stadtzentrum. Endgültig.

Wer sich auskannte, konnte bei Breuninger in der Metzgerstraße zentrumsnah parken.
Wer sich auskannte, konnte bei Breuninger in der Metzgerstraße zentrumsnah parken. Foto: STEFFEN SCHANZ
Wer sich auskannte, konnte bei Breuninger in der Metzgerstraße zentrumsnah parken.
Foto: STEFFEN SCHANZ

Viele Kunden nutzten in den vergangenen Wochen nochmal intensiv die Möglichkeit, das traditionsreiche Kaufhaus mit Glitzer-Galerie im mehrstöckigen Innenhof zu durchstreifen. »Sale« - vier Buchstaben auf schaufenstergroßen zitronengelben Plakaten lockten sie an: Ausverkauf. Nicht zuletzt der drinnen über Lautsprecher beschworene »Power-Sale« mit sensationellen Preisnachlässen ließ Schnäppchenjäger durch die sich lichtenden Reihen von Kleiderständern schlendern. Markenmode von Joop!, Marco Polo, Only oder von Cashmere-Spezialist Repeat ging für vergleichsweise wenig Geld über die Verkaufstheken.

Bis zuletzt fanden sich unter den Breuninger-Besuchern auch Nostalgiker: ein letztes Mal die Rolltreppe hochfahren, dann Rolltreppe runter, Aufzug hoch, Aufzug hinab ins lichtdurchflutete Erdgeschoss mit Hinterausgang zum Parkplatz an der Metzgerstraße. Früher waren da doch mal Parfümerieartikel? Oder war das noch zu Zeiten des Vorgängers?

Vor nicht ganz 40 Jahren, im November 1985, hatte der GEA mit einer Sonderseite 275 Jahre Modehaus Keim gefeiert: Das Kaufhaus sei ein »einzigartiger Anziehungspunkt im Zentrum der Stadt«. Als »eines der anheimelndsten Modehäuser zwischen Stuttgart und dem Bodensee« habe es dem Reutlinger Marktplatz die »schönen, individuellen Giebel und traditionellen Fensterfronten wiedergegeben«.

Johann Jacob Keim (1677-1764) hatte 1710 - als Reutlingen noch von Zünften geprägt war - das Schmiedehandwerk seiner Väter an den Nagel gehängt und am Tübinger Tor die Keimsche Tuchmacherei gegründet. Die hatte sich über den Stadtbrand 1726 »und die Fährnisse ruinöser Epochen« halten können und bildete die Basis des späteren Handelshauses.

Die Bekleidungshaus-Dynastie hat sich über acht Generationen hinweg gehalten: mit Joseph Keim (1710-1787), Johann Jakob Keim (1757-1836) zur Zeit der Industriellen Revolution, dem energisch-tatendurstigen Friedrich-List-Freund Joseph Keim (1797-1874), Carl Friedrich Keim (1838-1911), der den Schritt in die erste eigene Konfektion wagte, und Friedrich Keim (1872-1951), der 1910 übernahm und 1927 in vier zusammenliegende Gebäude in der Wilhelmstraße umzog. Von Kriegsverwüstungen unberührt, musste Carl Friedrich Keim (1910-1976) nach dem Zweiten Weltkrieg Lagerplünderungen kompensieren und den Wiederaufbau bewältigen. Danach: Wirtschaftswunder! Und ab 1973 profitierte Carl Fred Keim (geboren 1942) sowie in den 1990ern schließlich Fred Udo Keim von fortwährendem Wachstum und laufenden baulichen Veränderungen.

Im März 1990 wurde der erweiterte »neue Keim« feierlich eröffnet. Mit dem mehrstöckigen Lichthof und der Parfümerie Eisenmann im
Im März 1990 wurde der erweiterte »neue Keim« feierlich eröffnet. Mit dem mehrstöckigen Lichthof und der Parfümerie Eisenmann im Erdgeschoss zum Metzgerstraßenausgang hin. Foto: Uschi Pacher/gea
Im März 1990 wurde der erweiterte »neue Keim« feierlich eröffnet. Mit dem mehrstöckigen Lichthof und der Parfümerie Eisenmann im Erdgeschoss zum Metzgerstraßenausgang hin.
Foto: Uschi Pacher/gea

Zu einem Foto der einstigen Fassade mit wilhelminisch anmutenden Elementen schrieben die Kollegen damals: »Nach dem Wiederaufbau und den stürmischen Jahren des Wirtschaftswunders das Gesicht des Bekleidungshauses Keim, bevor die Architektur durch die kaufhaustypischen Fassadenmasken der späten 50er-Jahre im Stil des ,funktionellen Geschmacks' versteckt wurde.«

Vor Keim war Knapp am Marktplatz präsent

Noch vor Keim hatten in den zentralen Gebäuden am Reutlinger Marktplatz allerdings das 1753 gegründete Eisenhandelsunternehmen Ulrich Adam Knapp und das Café Astfalk ihren Platz. Daniel Knapp hatte 1775 in der heutigen Wilhelmstraße am Marktplatz ein Haus mit angrenzender Scheuer in der Metzgerstraße erstanden. Und damit den Firmenannalen zufolge »ein durchgehendes, wertvolles Geschäftsareal« geschaffen. Dort bot das Familienunternehmen Nacht- und Schnellkochtöpfe, Öfen, Wasch- sowie Bohrmaschinen. Auch das 1931 dazugekaufte Haus des Sanitätsrats Dr. Gayler wurde allerdings nach dem alliierten Bombenangriff 1945 durch einen Brand zerstört. Doch erst 1989 gab Knapp das Hausratgeschäft in der Altstadt auf - und sein Nachbar Keim stieg ein. Das Modehaus verlängerte so seine Schaufensterfront zur Fußgängerzone hin um rund das Doppelte.

"Seit gestern heißt das Modehaus Keim am Marktplatz Breuninger und feiert seinen stolzen Namen bis Samstag mit Aktionen am laufe
»Seit gestern heißt das Modehaus Keim am Marktplatz Breuninger und feiert seinen stolzen Namen bis Samstag mit Aktionen am laufenden Band«, hieß es zu diesem Foto im April 1998. Foto: Jens Boysen/gea
»Seit gestern heißt das Modehaus Keim am Marktplatz Breuninger und feiert seinen stolzen Namen bis Samstag mit Aktionen am laufenden Band«, hieß es zu diesem Foto im April 1998.
Foto: Jens Boysen/gea

Allzu lange währte Keims »Erlebnishaus mit kundenfreundlichen Bummelpassagen« trotz modernisierter Außenhülle jedoch nicht mehr. Auch wenn im März 1990 lobend von Fred Udo Keims Unternehmungsgeist und einem großen Stück Intuition zur Eröffnung des erweiterten »neuen Keim« am Reutlinger Marktplatz die Rede war. Und fünf Jahre darauf vermeldet wurde, die Reutlinger Firma habe 1994 trotz konjunkturellen Gegenwinds ihren Gesamtumsatz um fünf Prozent auf 71,4 Millionen D-Mark steigern können. Dazu trug vor allem das im September 1994 eröffnete Sporthaus mit 2.200 Quadratmetern zusätzlicher Verkaufsfläche bei. Doch am 26. Januar 1995 teilte das Fachblatt »Textil-Woche« mit, die mittlere Führungsebene bei C. F. Keim werde aufgelöst.

Und schon am 22. Juni 1995 wurde bekannt, dass das Stuttgarter Traditionshaus Breuninger Keim übernehme. »Damit setzt die Breuninger GmbH & Co., Stuttgart (14 Kauf- und Modehäuser, 920 Mill. DM Umsatz in 1994), ihre Expansion im Südwesten fort«, schrieb die Textil-Woche dazu.

Und nun zieht auch der 1881 in Stuttgart gegründete und 1956 zum 75-Jährigen wegen seines Ansehens und seiner sozialen Leistungen von zufriedenen Mitarbeitern gerühmte Breuninger aus der Reutlinger City weg.

Von Hochstimmung ist heute beim Personal in der Wilhelmstraßen-Glitzer-Galerie nichts zu spüren. Routiniert entfernen Verkäuferinnen die Diebstahlsicherung aus den Textilien. Auf die Frage einer Kundin antwortet eine Angestellte: Eine Weiterbeschäftigung in einer anderen Breuninger-Filiale komme für sie als Mutter dreier Kinder nicht in Frage. Nach dem Ende des Verkaufs am 30. November werde bis 15. Dezember das Gebäude noch ausgeräumt. Dann sei sie freigestellt. Was sie danach macht, will sie erst im nächsten Jahr überlegen. (GEA)