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Aktuell Schulreform

Viel zu überstürzt: Geplante Rückkehr zu G9 sorgt in Reutlingen für Verdruss

Warum sich ein Reutlinger Gymnasiallehrer mit einem »verzweifelten Hilferuf« an Kultusministerin Theresa Schopper gewandt hat und vielen Pädagogen vor der Wiedereinführung des neunjährigen Gymnasiums im Hopplahopp-Verfahren graust.

Mit einem Fingerschnipp wird die Rückkehr zu G9 nicht wirklich funktionieren: Auf dem Beteiligungsportal des Landes warnen Hunde
Mit einem Fingerschnipp wird die Rückkehr zu G9 nicht wirklich funktionieren: Auf dem Beteiligungsportal des Landes warnen Hunderte Gymnasiallehrer davor, die geplante Reform übers Knie zu brechen und mit einem - aus ihrer Sicht fragwürdigen Konzept - schon nach den Sommerferien zu starten. Foto: Bernd Weißbrod/dpa
Mit einem Fingerschnipp wird die Rückkehr zu G9 nicht wirklich funktionieren: Auf dem Beteiligungsportal des Landes warnen Hunderte Gymnasiallehrer davor, die geplante Reform übers Knie zu brechen und mit einem - aus ihrer Sicht fragwürdigen Konzept - schon nach den Sommerferien zu starten.
Foto: Bernd Weißbrod/dpa

REUTLINGEN. Helmut Burgbacher hat Bauchgrimmen. Was den Reutlinger Gymnasiallehrer mit zahllosen Kollegen im Ländle eint, die ebenfalls besorgt aufs kommende Schuljahr blicken. Bleischwer im Magen liegt ihnen die Wiedereinführung von G9. Wobei es nicht die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium als solche ist, die für kollektives Missbehagen sorgt, sondern ihre inhaltliche Ausrichtung nebst der Art und Weise wie das Stuttgarter Kultusministerium mit der angestrebten Reform umgeht - nämlich intransparent und überstürzt. So jedenfalls die Klagen etlicher Pädagogen.

Zwar hat das Kultusressort von Ministerin Theresa Schopper auf dem Beteiligungsportal Baden-Württemberg beizeiten eine Online-Kommentierung der Schulgesetznovelle ermöglicht. Dass sich besagte Kommunikationsplattform jedoch als Einbahnstraße entpuppt - es sorgt für zusätzlichen Verdruss. Hatte das Ministerium doch angekündigt, auf Zweifel, Befürchtungen, Anregungen und Fragen reagieren zu wollen. Und zwar zeitnah.

Das Team Schopper schweigt

Jedoch: Das Team Schopper schweigt. Seit Ende der Kommentierungsphase - sie lief bis einschließlich 17. September 2024 - ist das Kultusministerium jedwede Replik auf durchweg sachlich formulierte Kritik schuldig geblieben.

Geäußert wird sie von Kunst-, Musik-, Sport- und Fremdsprachenlehrern ebenso wie von solchen, die die Fächer des sogenannten MINT-Bereichs (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) unterrichten. Letzterer soll nach dem Willen des baden-württembergischen Kultusministeriums durch die nach den Sommerferien greifende Reform gestärkt werden. Allein: Davon kann nach Einschätzung von Lehrern wie dem Reutlinger Oberstudienrat Helmut Burgbacher keine Rede sein.

G8 mal eben abhaken und dann durchstarten? Wenn's so einfach wäre, gäbe es rund um die Wiedereinführung von G9 keine Bedenken, S
G8 mal eben abhaken und dann durchstarten? Wenn's so einfach wäre, gäbe es rund um die Wiedereinführung von G9 keine Bedenken, Sorgen, Fragen und Zweifel. Foto: Armin Weigel/dpa
G8 mal eben abhaken und dann durchstarten? Wenn's so einfach wäre, gäbe es rund um die Wiedereinführung von G9 keine Bedenken, Sorgen, Fragen und Zweifel.
Foto: Armin Weigel/dpa

Am Johannes-Kepler-Gymnasium tätig, lehrt er seinen Schülern schon seit bald einem Vierteljahrhundert die Fächer Mathematik, Physik und Informatik und wagt es - als Mann der Praxis - die in Stuttgart geschmiedeten Bildungspläne in ihrer bis dato bekannten Form presseöffentlich zu hinterfragen. Nicht nur das Hopplahopp-Verfahren mit dem die Schulgesetzänderung durchgepeitscht werden soll, ist Gegenstand seiner tiefen Sorge um den künftigen Zustand der hiesigen Bildungslandschaft, sondern auch, »dass wir nicht gehört werden«. Womit er auf die ausstehenden ministerialen Stellungnahmen im Internet anspielt.

»Frustrierend« sei dieses Hingehaltenwerden für ihn. »Ich möchte endlich Antworten bekommen, um Sinn und Zweck einiger Reformdetails begreifen zu können und Verschlimmbesserungen zu vermeiden.« Doch egal, an wen er sich auch wendet - niemand, so scheint es, kann schlüssig Auskunft geben. Und das, obschon Burgbacher binnen der zurückliegenden Wochen mehrere Anläufe unternommen hat. Etwa beim Regierungspräsidium Tübingen, das sein Anliegen mit Schulterzucken quittierte. Denn Genaues weiß man offenbar auch dort nicht.

Faktische Schwächung des MINT-Bereichs

Darum hat er Mitte Dezember direkt an Ministerin Schopper geschrieben. Burgbachers Brief beginnt mit den Worten »Ich wende mich mit einem verzweifelten Hilferuf an Sie« und endet mit »Dank für ein offenes Ohr und freundlichen Grüßen«. Dazwischen geht es unter anderem um die faktische Schwächung des MINT-Bereichs durch den geplanten Wegfall des IMP-Profils (Informatik, Mathematik, Physik).

Dieses hat Helmut Burgbacher vor etwa sechs Jahren am Reutlinger »Kepi« mit an den Start gebracht. Seither erfreut es sich einiger Beliebtheit und wird von Schülern, Eltern und Kollegen gleichermaßen positiv bewertet. Das Profil, so Burgbacher, »hat sich bewährt, ist etabliert und eine tatsächliche Stärkung des MINT-Bereichs«.

Etabliertem Erfolgsmodell droht ein jähes Aus

Warum, fragt er sich, droht diesem Erfolgsmodell jetzt ein jähes Aus? Warum soll nurmehr das Profilfach NwT unterrichtet werden, bei dem praktische Projektarbeit im Vordergrund steht, derweil IMP für theoretische Vertiefung sorgt. Weshalb jeder Versuch, IMP-Inhalte in NwT einzubetten, einer Quadratur des Kreises gleichkäme. Aus Burgbachers Sicht ist’s schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit.

Und noch etwas geben er und etliche Kollegen zu bedenken: Die flächendeckende Einführung von NwT als alleiniges naturwissenschaftliches Profilfach wird ein kostspieliges Unterfangen - weil an vielen Gymnasien bislang nur IMP unterrichtet wird und Fachräume mit entsprechenden Sicherheitsstandards für NwT erst noch geschaffen und ausgestattet werden müssen. Denn anders als bei IMP, geht es in NwT eben auch um handwerklich-technische Arbeitsmethoden und den Umgang mit Maschinen.

Schriftlicher Appell an Schopper

Burgbachers (Stand heute noch unbeantwortet gebliebener) schriftlicher Appell an Theresa Schopper: »Bitte ignorieren Sie nicht die zahlreichen Bedenken gegen die Schulreform und gegen die überstürzte Rückkehr zu G9. Eine Stellungnahme des Ministeriums auf dem Beteiligungsportal des Landes wäre sehr wichtig« - um die Plattform »nicht zu diskreditieren« und die angestrebte »'Stärkung der Demokratiebildung' als eine der fünf G9-Innovationen konkret werden zu lassen«.

Bei aller Kritik möchte Helmut Burgbacher übrigens auf keinen Fall in den Ruch geraten, an alten Zöpfen zu klammern oder Ministerinnen-Bashing zu betreiben. Da das achtjährige Gymnasium erwiesenermaßen »nicht zum erhofften Erfolg« - etwa zur früheren Aufnahme von Studium oder Berufsausbildung - geführt, dafür aber einen stärkeren Förderbedarf einzelner Schüler nach sich gezogen hat, findet der Oberstudienrat die Rückkehr zu G9 als gymnasiale Regelform grundsätzlich in Ordnung. Sofern dies weder husch-husch noch intransparent geschieht - zumal in Zeiten akuten Lehrermangels. (GEA)