REUTLINGEN. Plakate aufhängen für den Bundestags-Wahlkampf ist in Reutlingen und der Region zurzeit weniger nachhaltig denn je. Kaum angebracht, werden die Poster schon wieder herabgerissen. Das vermelden auf GEA-Nachfrage am Montag fast alle beteiligten Parteien. Anlass für die Umfrage: Unbekannte hatten am vergangenen Wochenende in der Reutlinger Heppstraße alle dort erst am Mittwoch an Laternenmasten befestigten Plakate der Linken und deren Reutlinger Bundestagskandidatin Anne Zerr entfernt und teilweise zerstört.
Betroffen seien alle zwölf an sechs Stellen entlang der Straße zwischen Edeka-Einkaufsmarkt und Betzinger Ortsmitte befindlichen Wahlposter, berichtet der Linken-Kreis- und Reutlinger Fraktionsvorsitzende im Gemeinderat, Rüdiger Weckmann. Am Samstagfrüh waren sie sämtlich abgehängt, zusammengetreten und in einem Fall direkt am Mast abgefackelt worden. Die Spuren hat ein Helfer am Sonntag fotografisch festgehalten.

»Wir erleben aktuell eine Vielzahl an Vandalismus bezüglich unserer Plakate«, teilt auch die SPD-Kreisvorsitzende Ronja Nothofer-Hahn mit. Das betreffe Plakataufsteller ebenso wie Großflächenplakate.
"Wie in vorigen Wahlkämpfen ist es auch diesmal wieder zu Vandalismus gegen FDP-Wahlplakate in Reutlingen gekommen. Plakate wurden beschmiert, beklebt, abgerissen und so verdreht, dass sie nicht mehr gut zu erkennen sind", erklärt Pascal Kober von der FDP mit.
Teils seien die Poster wenige Stunden nach dem Aufhängen »bereits zerstört«, berichtet Leoni Neubauer vom Wahlkampfteam des Reutlinger Kandidaten von Bündnis 90/Die Grünen, Jaron Immer. »Teilweise werden an den Straßen Plakate aller demokratischen Parteien zerstört, teilweise nur unsere« - hauptsächlich betroffen seien kleine Plakate, »wir haben aber auch schon eine Großfläche ersetzen müssen«. Obwohl sie im Vorfeld mehr Plakate drucken ließen, als sie aufzuhängen planten, müsse schon diese Woche nachgeordert werden. »Weil so viele abgerissen wurden.« Den Großteil ihrer Plakate lassen die regionalen Grünen durch einen professionellen Plakatierer aufhängen, erklärt sie, »stellenweise plakatieren wir selbst nach«.
»Sehr viel mehr beschädigt, beschmutzt und heruntergerissen«, als sie das von vorherigen Wahlkampagnen kennt, wurde vor allem in den vergangenen zwei Wochen Wahlwerbung der CDU, berichtet Gabriele Gaiser als Beisitzerin im Vorstand der CDU-Kreistagsfraktion. »Im Nordraum sind wir ständig am Nachplakatieren.« Dass die Plakate oft schon nach zwei Tagen herabgerissen oder schwarz bemalt sind, sei für die ehrenamtlichen Helfer, die das in ihrer knapp bemessenen Freizeit leisten, »zeitintensiv und belastend, ärgerlich und unnötig«, erklärt die Vorsitzende der Reutlinger CDU-Gemeinderatsfraktion und Bezirksbürgermeisterin von Rommelsbach.
Während diese im Fall der Reutlinger Heppstraße wie jene der Grünen, der SPD und der MLPD unangetastet blieben, vermeldeten auch Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer der Gruppe BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht) schon, dass »Plakate in der Region Reutlingen abgerissen und auf den Boden geworfen wurden«, teilt ein Mitarbeiter der Reutlinger MdB Jessica Tatti mit.
AfD vermisst flächendeckend Plakate in Pliezhausen
Harald Rinderknecht, AfD-Gemeinderat aus Pliezhausen, schrieb am Sonntag dem GEA, dass »in der Nacht auf Sonntag fast alle Plakate von AfD und CDU entfernt« wurden. Auch solche, die auf Privatgrundstücken aufgehängt worden seien. 30 Doppelplakate mit Bild und Text vorn und hinten, die sie am Freitag und Samstag in der Gemeinde und den Ortsteilen aufhängten, waren am Sonntagmorgen verschwunden. Nur eines in der Ortsmitte - es hänge an einer Bushaltestelle und sei stark beleuchtet - hat Rinderknecht noch gefunden. Er beziffert den entstandenen Schaden auf 300 Euro. Demnächst wollen die Wahlhelfer neue Plakate aufhängen. »Dafür muss ich sie erst motivieren, denn die sagen: Nachher werden die wieder abgehängt.« Mit dem Montieren seien schließlich zwei bis drei Personen jeweils bis zu vier Stunden beschäftigt.
Steffen Sautter, der Leiter der Ordnungs- und Sozialverwaltung Pliezhausen, war zunächst nichts von verschwundenen CDU- und AfD-Plakaten bekannt. »Es ist nicht aufgefallen und uns auch nicht gemeldet worden.« Am Nachmittag jedoch bestätigt er, dass ein Großteil der AfD-Plakate fehle und zwei von der CDU unten gelegen hätten. Am Ortseingang von Pliezhausen ist ein großes Plakat des Grünen-Spitzenkandidaten Robert Habeck noch intakt, während das von der CDU direkt daneben halb abgerissen und so beschädigt wurde, dass Partei und Botschaft nicht mehr erkennbar sind. In gelben Buchstaben steht auf dem Plakatrest: »FCK Nazis«.
Ein ebenfalls beschädigtes CDU-Plakat hängt auf der L 380 a an der Ortseinfahrt des Metzinger Teilorts Neuhausen von der Hardtsiedlung her: Spitzenkandidat Friedrich Merz wurde mit einem Hakenkreuz und einem schmalen Oberlippenbart beschmiert, der an Adolf Hitler erinnern soll. Karin Theis, die Vorsitzende des CDU-Ortsvereins Metzingen, kündigt an, das Plakat solle ausgetauscht werden. »Generell können wir uns in Metzingen nicht über Beschädigungen beklagen.«
Mehr Vandalismus als bisher?
Für den Reutlinger Linken-Vertreter steht fest: »Vandalismus in diesem Umfang« ebenso wie der Hass, der dadurch »leider sichtbar wird«, hat er bisher noch nicht erlebt. »Wir nehmen an, dass dieser von rechts kommt«, teilt Weckmann mit. Es gebe zwar immer Verrückte, meint der langjährige Kommunalpolitiker. »Aber dass systematisch so viel zerstört wurde«, ist ihm neu. Immerhin: Noch beschränke sich dies auf Gewalt gegen Sachen.
Auch Gaiser von der CDU hat Sachbeschädigungen im Wahlkampf in ihrer mehr als 20-jährigen Erfahrung »in diesem Umfang« noch nicht erlebt. Ihre Parteikollegin Theis hingegen meint, Plakate zu beschmieren sei zwar eine Unsitte, die in diesem Wahlkampf aber nicht stärker vorkomme als sonst. »Es gibt ein paar Spezialisten, die das tun. Aber wir haben Plakate in Reserve.« Leoni Neubauer von den Grünen empfindet den derzeitigen Vandalismus als »deutlich ausgeprägter als zum Beispiel im Kommunal- und Europawahlkampf letztes Jahr«. Besonders problematisch: »Dass wir auf unseren Plakaten auch schon Sticker rechtsextremer Parteien gefunden haben«.
Rinderknecht sieht eine neue Qualität der Beeinflussung im Wahlkampf: "Es kam immer mal wieder vor, dass AfD-Plakate weggeschlagen wurden. Das hier sieht aber nicht so aus, als hätte jemand Randale machen wollen." Dass auch die Christdemokraten betroffen seien, sei neu, sagt Rinderknecht. "Das sieht für mich nach einer geplanten Aktion aus."
Polizei rät: Straftaten konsequent zur Anzeige bringen
Auch wenn der Sachschaden durch den Vandalismus an Linken-Plakaten mit schätzungsweise 24 Euro gering ist, hat Weckmann den Fall bei der Polizei angezeigt. Immerhin waren 15 Personen für den Linken-Kreisverband zusammen an die 180 Stunden unterwegs, um an bislang 301 Stellen im Landkreis an vier Tagen 602 Plakate aufzuhängen.
Das Ermittlungsverfahren wegen politisch motivierter Sachbeschädigung werde beim Polizeiposten Reutlingen-West bearbeitet, bestätigt Martin Raff als Sprecher des Polizeipräsidiums Reutlingen. »Auch wenn die Ermittlungen derzeit gegen unbekannt geführt werden, raten wir unabhängig von einer möglichen Aufklärungschance, Straftaten konsequent zur Anzeige zu bringen.« Nur so können Häufungen, Schwerpunkte oder Zusammenhänge von entsprechenden Taten durch die Polizei nachvollzogen und bei Ermittlungenberücksichtigt werden.
Seit Mitte vergangener Woche wurden ihm zufolge zu dem Reutlinger Fall auch beschädigte oder beschmierte Wahlplakate verschiedener Parteien in Engstingen und Reutlingen-Rommelsbach zur Anzeige gebracht. »Vor Wahlen aller Art stellen wir immer diverse Straftaten im Zusammenhang mit Wahlplakaten fest« - meist Sachbeschädigungen, aber auch Diebstähle. Betroffen seien fast alle Parteien. Da in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) Fälle immer erst nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens erfasst werden, liege aktuell noch kein »valides statistisches Zahlenmaterial« vor. Deshalb kann die Polizei »keinen Vergleich mit zurückliegenden Wahlen vornehmen«.
Nicht entmutigt
»Wir sind davon überzeugt, dass der Hass und die Gewalt in diesem Wahlkampf von einer kleinen Minderheit ausgeht«, teilt Leoni Neubauer von den Grünen mit. »Die große Mehrheit in diesem Land möchte einen fairen demokratischen Wettbewerb und dass wir gemeinsam zu Lösungen kommen.« Das erlebe Kandidat Immer auch in seinen Gesprächen im Wahlkampf. Wenn Mitglieder nun jedoch stellenweise nachplakatieren, hält sie das Team an, »dies auf keinen Fall allein zu tun«. Denn dabei »wurden Mitglieder auch während diesem Wahlkampf schon beschimpft«.

Auch die Linken lassen sich von dem Vandalismus nicht entmutigen. In Sozialen Medien reagierten sie noch am Wochenende mit dem Slogan »Uns beeindruckt das nicht! - Wir werden jedes einzelne Plakat wieder aufhängen«. Jedes Mal werde man dabei mit noch mehr Leuten ins Gespräch kommen. »Die Linke wird in den Bundestag einziehen, das kann kein Antidemokrat verhindern. Unser Ziel bleibt: 5 Prozent + X«, schreibt deren Kandidatin Anne Zerr kämpferisch. (GEA)