REUTLINGEN. Die Gewaltherrschaft von Baschar al-Assad hat die Christin Antwanet Sagman vor über zwei Jahrzehnten aus ihrem Heimatland Syrien getrieben. Sie kommt 2000 als Flüchtling in Deutschland an. Seit 2017 arbeitet die Prüfingenieurin beim TÜV Süd in Reutlingen. Den Sturz Assads verfolgt sie mit großer Freude, macht sich allerdings auch Sorgen um die Zukunft des vom Bürgerkrieg zerstörten Landes.
»Das ist für mich ein historischer Moment. Ich freue mich so sehr«, beschreibt die 50 Jahre alte Mutter von drei erwachsenen Kindern ihre Gefühle bei der Nachricht »Assad gestürzt«. Mit der Flucht des syrischen Machthabers zu seinen diktatorischen und militärischen Freunden nach Russland endet aus der Sicht der Reutlingerin eine jahrzehntelange Schreckensherrschaft. Wie viele Syrer vor Ort ist sie zunächst in Jubelstimmung, »denn der Sturz kann viele positive Entwicklungen bedeuten«. Allerdings teilt Sagmann als im »WiR in Reutlingen Verein« politisch engagierte Frau auch Sorgen über das Chaos und neue Gewalt - ob in Damaskus oder Aleppo. Viele ihrer Freunde und Verwandten sind noch in Syrien, erzählen ihr von der aktuellen Situation.
»Die Lage in Syrien hat sich noch nicht beruhigt«
»Die Lage in Syrien hat sich noch nicht beruhigt«, beginnt sie zu erzählen, »es gibt sehr viel Chaos. Man kann aber auch nicht erwarten, dass nach 53 Jahren Chaos alles innerhalb eines Tages besser wird.« Mit der langen Zeit gemeint, ist die Herrschaft der Familie Assad an sich. Die Millionenstadt Aleppo, zweitgrößte Stadt des Landes, ist nach dem Bürgerkrieg, unzähligen russischen Bombenangriffen und einem Terrorregime in weiten Teilen zerstört. »Es fehlt an Wasser, Gas zum Heizen und Lebensmitteln«, zählt Sagman nur einige Beispiele für Not und Elend auf. »Die Infrastruktur ist durch den Krieg von Assad gegen sein eigenes Volk zerstört«, ergänzt die Reutlingerin mit syrischen Wurzeln.
Mit gemischten Gefühlen beobachtet sie auch, dass die Allianz aus Rebellen, angeführt von Islamisten, nach ihrer überraschend erfolgreichen Blitzoffensive nunmehr vor schwierigen Zukunftsfragen steht: Wer soll wie das gespaltene Land regieren? Verunsicherung herrsche überall, erzählt Sagmann: »Jeder hat Angst, dass etwas passiert. Die Menschen gehen nicht einfach so auf die Straße. Sie gehen sicherheitshalber nicht zur Arbeit. Sie gehen nicht einkaufen.« Denn ob die Versprechungen der siegreichen Rebellenallianz für Ruhe und Ordnung zu sorgen, letztlich nur wie eine Seifenblase platzten, müsse sich erst noch herausstellen. »Sie haben viel versprochen. Alle hoffen, dass sie es auch halten«, betont Sagman.
In dem geschundenen Land ist wenig alltäglich geblieben, berichtet die Reutlingerin in Übereinstimmung mit Nachrichtenagenturen. Viele Geschäfte sind in Aleppo oder Damaskus geschlossen. Auf den Straßen bewegen sich Gruppen, die wie Banden aussehen, meldet etwa die Deutsche Presse-Agentur. Es gibt eine nächtliche Ausgangssperre.
»Alle Syrer müssen jetzt zusammenarbeiten«
So kurz nach dem Ende des Assad-Regimes schon über die Rückkehr von Flüchtlingen zu sprechen oder einen Aufnahmestopp umzusetzen, findet Antwanet Sagman »falsch. Das macht keinen Sinn. Wir müssen abwarten.« Damit liegt sie auf einer Linie mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), die vor vorschnellen Schlussfolgerungen warnt. Unterstützen kann Antwanet Sagman, was die Sozialdemokratin zur Einschätzung des Sturzes insgesamt äußerte: »Das Ende der brutalen Gewaltherrschaft des syrischen Diktators Assad ist eine große Erleichterung für viele Menschen, die unter Folter, Mord und Terror gelitten haben.« Sagman hofft sehr auf eine gedeihliche und friedliche Entwicklung ihres Heimatlandes, aber die sei keinesfalls gesichert. »Alle Syrer müssen jetzt zusammenarbeiten und die Zukunft neu gestalten. Unabhängig von ihrer Herkunft und Konfession«, betont sie. (GEA)