REUTLINGEN. Eine Grundfläche von 19.000 Quadratmetern, und das in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt: Gelände wie das des einstigen Fernmeldeamts in der Reutlinger Karlstraße werden ganz gerne als »Filetstücke« bezeichnet. Allerdings tut sich hier seit vielen Jahren so gut wie nichts. 2015 hat ein Investor das Gelände aufgekauft, viel verändert hat sich seitdem nicht. Einige Teile des Gebäudes sind zwar nach wie vor vermietet, beispielsweise an einen Gebrauchtwagenhändler, die IB Sprachschule und eine Behörde des Landratsamts. Zudem hat die Telekom dort noch Leitungen und Installationen liegen, die für die Telefonverbindung wichtig sind. Aber: Von einem ansprechenden Stadtquartier, wie es sich der Investor und auch die Stadt erträumt haben, ist man nach wie vor weit entfernt.
Doch das könnte sich bald ändern: Am Dienstag stellen Stephan Schlee von der gleichnamigen Immobilienfirma und Wolfgang Bisinger (Bisinger Consult) dem Gemeinderat in nichtöffentlicher Sitzung erste grobe Planungen für das Areal vor. Vergangene Woche waren sie bereits im Bauausschuss. Die beiden Projektentwickler sind in der Stadt keine Unbekannten: Sie haben das Stadtquartier Blue Village direkt an der B 28/Schieferstraße entwickelt und innerhalb kurzer Zeit umgesetzt. »2015 haben wir die Idee geboren, 2018 war Spatenstich«, blickt Bisinger auf diese Erfolgsgeschichte zurück. Ähnliches erhoffen sie sich auch vom Telekom-Areal, wenn die Sache denn mal Fahrt aufnimmt.
Es gibt viele gute Ideen
Allzu konkret wollen die beiden im Gespräch mit dem GEA im Vorfeld nicht werden, denn die Stadträte sind ja noch nicht informiert. Ein paar Möglichkeiten und Ideen geben sie aber dennoch preis. So schwebt ihnen für das Gelände eine gemischte Nutzung vor, Teile der Gebäude könnte man beispielsweise kleinteilig an Handwerker und Mittelständler aus der Region vermieten. Aber natürlich sei auch »der Wohnungsbau dringender denn je«, sagt Stephan Schlee. Er könnte sich durchaus Business-Apartments oder Studentenwohnungen vorstellen, Penthouse-Wohnungen ganz oben oder auch Gastronomie für die angrenzenden Wohngebiete und Betriebe. »Es gibt viele gute Ideen«, ergänzt Wolfgang Bisinger. Allerdings will man den Entscheidungsträgern nicht vorgreifen, sondern gemeinsam schauen, was machbar ist.
An der Machbarkeit sind allerdings schon frühere Pläne gescheitert. So hatte der Investor Jochen Welsch bereits 2015 einiges vor mit dem Areal. Im Hochhaus, dem so genannten »Telekom-Tower«, sollten hochwertige Büroflächen entstehen, im Technikgebäude entlang der Karlstraße waren Ausstellungs-, Büro-, Gastronomie-, Fitness- oder Wellnessnutzungen geplant. »Die Stadt hat damals innerhalb kurzer Zeit den Weg frei gemacht für eine neue Nutzung«, blickt Stefan Dvorak, Leiter vom Amt für Stadtentwicklung zurück. Das einstige »Sondergebiet Post« wurde zum eingeschränkten Gewerbegebiet. Doch umgesetzt wurde keines der Vorhaben.
Kaufland wurde nicht genehmigt
Bis vor Kurzem waren der Eigentümer und die Projektentwickler dann in Gesprächen mit dem Lebensmittelgroßhändler Kaufland - aber die Ansiedlung dieses Supermarktes war nicht möglich. Das Vorhaben widersprach dem Märktekonzept, erklärt Stadtplaner Dvorak, außerdem soll in diesem Bereich kein Einzelhandel angesiedelt werden, der dem Handel in der Innenstadt Konkurrenz machen könnte. Dvorak sähe es lieber, wenn dort Gewerbeflächen erhalten bleiben und sogar neue entstehen. Doch auch eine teilweise Schaffung von Wohnraum ist für das Amt nicht völlig ausgeschlossen, »wir stellen uns nicht quer«, betont Dvorak auf Nachfrage. Allerdings muss dafür erneut der Bebauungsplan geändert werden und aus dem eingeschränkten Gewerbegebiet ein Mischgebiet gemacht werden.
Die Projektentwickler sind momentan wieder zuversichtlich, dass es auf dem Gelände vorangeht. Zwar haben die Verhandlungen mit Kaufland, die dann letzten Endes nicht umgesetzt werden konnten, »richtig viel Zeit gekostet«, blicken sie zurück - das habe sie kurzfristig etwas entmutigt. »Aber jetzt ist wieder Dynamik drin in dem Prozess«, beobachten sie. Und schließlich sei es ja in aller Interesse, dass etwas passiert, sind sie überzeugt. Brachen, auf denen sich nichts tut, gebe es einige in der Stadt. Wenn sich dann etwas entwickelt, ist dies zum Wohl aller - und schlechter als im Moment könne es auf dem Gelände kaum werden.
Telekom bleibt Mieter
Wenn alle an einem Strang ziehen, geht es dort bald voran, sind die beiden überzeugt, vom Besitzer haben sie vollen Rückhalt, alles werde zu dritt entwickelt. Sollte der Gemeinderat sich positiv entscheiden, was ihre Grobplanungen betrifft, seien sie bereit, loszulegen, erzählen die beiden. Die Gebäude sollen übrigens erhalten bleiben, so viel verraten die Planer und auch Stefan Dvorak bereits vorab. Besonders das Hochhaus, der so genannte Telekom-Tower ist mit seiner Form ein stadtbildprägendes Gebäude, das im Bestand umgebaut werden soll. Apropos Telekom: Die bleibt auf jeden Fall noch viele weitere Jahre an ihrer alten Wirkungsstätte erhalten, der Mietvertrag ist langfristig angelegt.
Ansonsten kommt im Tower momentan ein ziemliches Lost-Place-Feeling auf, wenn man ihn betritt. Das Treppenhaus ist verstaubt, die Aufzüge außer Betrieb, in einigen Büros stehen noch alte Möbel, die beim Auszug vergessen wurden. Aus der Zeit der Interims-Unterkunft für Flüchtlinge gibt es noch Etagen-Badezimmer und einige Zimmer sind deshalb recht neu gestrichen, andere ziemlich verwahrlost. Die Aussicht aus den oberen Stockwerken ist allerdings überwältigend - allein ihretwegen ist die Bezeichnung »Filetstück« gerechtfertigt. (GEA)
Das Areal Karlstraße 84 und seine Geschichte
Am 1. Januar 1957 entstand das Fernmeldeamt Reutlingen aus dem Erbe des gleichzeitig aufgelösten Fernmeldeamts Tübingen. Im Spätherbst wurden Büroräume angemietet und die Behörde nahm ihre Arbeit auf. 1969 wurde das Fernmeldeamt in der Karlstraße 84 fertig gestellt und die Stadt Reutlingen bekam mit dem »Hochaus mit Ohren« ein neues Wahrzeichen. Es folgten Jahre des Booms, in denen die Behörde so viel Aufträge hatte, dass es sogar lange Wartelisten gab für neue Telefonanschlüsse.
Im Zuge der Postreformen wurde das Fernmeldeamt 1994 der Deutschen Telekom AG zugeordnet. Es folgten Umstrukturierungen und Standortverlagerungen, die letzendlich zu einem Leerstand von großen Teiles des Gebäudekomplexes geführt haben. Anfang 2015 hat die Telekom das ganze Gelände an einen privaten Investor verkauft. Nur in einem der hinteren Gebäudeteile hat sie noch Räume gemietet für eine Knotenvermittlungsstelle.
Ende 2015 kehrte kurzfristig Leben in leeren Büros ein, als der Landkreis den Quertrakt des Gebäudes angemietet hat, um dort im Hauruckverfahren Platz für Flüchtlinge, großteils aus Syrien, zu schaffen. Es blieb ein kurzes Intermezzo, wenige Monate später wurde die Flüchtlingsunterkunft wieder aufgelöst.