REUTLINGEN. Vor 150 Jahren erhielt Reutlingen eine Landwirtschaftsschule mit überregionaler Reichweite. Zuvor hatte der Gemeinderat seine Bereitwilligkeit signalisiert, »der zu errichtenden landwirtschaftlichen Winterschule ein geeignetes Local zur Verfügung zu stellen …«.
Wenn man die heutige Industriestadt Reutlingen vor Augen hat, scheint es recht verwunderlich, dass ausgerechnet hier vor gerade einmal 150 Jahren eine Landwirtschaftsschule gegründet wurde, heißt es in einer hier veröffentlichten historischen Abhandlung des Stadtarchivs:
Tatsächlich war aber Reutlingen und sein Umland am Ausgang des 19. Jahrhunderts noch stark bäuerlich geprägt. Hier hatte der Landwirtschaftliche Bezirksverein seinen Sitz, der die Einrichtung einer Fortbildungsschule vor Ort mit Unterstützung des damaligen Oberamtmanns Schippert maßgeblich vorantrieb.
Nach der Gründung der Landwirtschaftlichen Akademie in Hohenheim im Jahr 1818 und weiterer ihr unterstellter Ackerbauschulen richtete der Reutlinger Bezirksverein eine Bitte an die Regierung: »Es möchten noch einige mit dem Hauptinstitut in Hohenheim in Verbindung stehende Filialinstitute errichtet werden, deren Aufgabe nächst der Bildung von Landwirten vorwiegend in praktischer Richtung und Anstellung von Versuchen, besonders Belehrung durch Musterwirtschaft sein sollte.«
Start mit 20 Schülern
Trotzdem sollte es noch bis zum Jahr 1869 dauern, bis die Stuttgarter Zentralstelle für die Landwirtschaft beschloss, im Land solche Versuchsschulen einzurichten. Mit ein Grund dafür waren sicherlich die guten Ergebnisse der sogenannten Landwirtschaftlichen Winterschulen, die inzwischen im benachbarten Großherzogtum Baden gegründet worden waren.
Die Standortwahl fiel zunächst auf Ravensburg, woraufhin sich der hiesige Bezirksverein gemeinsam mit den Nachbarvereinen in Tübingen, Rottenburg, Herrenberg, Urach und Münsingen mit Nachdruck ebenfalls um eine solche Schule bemühte.
Die Stadt Reutlingen erklärte sich dazu im Herbst 1869 bereit, auf eigene Kosten »ein geeignetes Local zur Verfügung zu stellen«, inklusive Beleuchtung und Heizung der Räume. Ob das schließlich das ausschlaggebende Argument war, ist nicht bekannt, doch erhielt Reutlingen den Zuschlag. So konnte am 15. November 1870 der erste Kurs an der »Königlich Landwirtschaftliche Winterschule« mit 20 Schülern eröffnet werden. Im Unterschied zu den hier bereits seit 1859 bestehenden Winterkursen, die an drei Abenden zur Fortbildung »für junge Landwirthe und Weingärtner« abgehalten wurden, wie Ankündigungen im Reutlinger Amtsblatt dokumentieren, handelte es sich bei der neu gegründeten Landwirtschaftlichen Winterschule um eine Schule mit Ganztagesunterricht.
Die Kurse wurden von Montag bis Samstag während der Monate November bis März abgehalten. In den Sommermonaten fanden Ergänzungslehrgänge, Besichtigungsfahrten und Wettbewerbe statt. Nachdem in den ersten Jahren nur ein einjähriger Kurs durchgeführt worden war, teilte man die Schüler ab dem Schuljahr 1872/73 in einen jeweils einjährigen Unter- und Oberkurs ein.
Diese bauten zwar aufeinander auf, der Besuch des Oberkurses war aber nicht verpflichtend. Überhaupt war der Schulbesuch lange Zeit freiwillig, erst mit der Anerkennung als offizieller Lehrberuf im Jahr 1959 wurde der Besuch an einer der inzwischen zahlreich vorhandenen Landwirtschaftsschulen zur Pflicht für angehende Landwirte.
Ihr Domizil fand die Reutlinger Landwirtschaftsschule 1870 neben der evangelischen Marienkirche im Gebäude Weibermarkt 4, das in den Jahren 1727/28 nach dem großen Stadtbrand als städtisches Schulhaus neu errichtet worden war. Das Gebäude beherbergt heute das Naturkundemuseum. Die Landwirtschaftliche Winterschule belegte in der Anfangszeit lediglich einen SchuIsaal. Das Haus wurde noch für die Knabenvolksschule und auch später für weitere wechselnde schulische Zwecke genutzt, doch stieg der Raumbedarf stetig an. In der Schülerstatistik ist besonders nach Notzeiten, wie sie die beiden Weltkriege mit sich brachten, jeweils ein starker Schüleranstieg ablesbar.
Das Einzugsgebiet reichte vor der Gründung weiterer Landwirtschaftsschulen vom Schwarzwald, bis zur Schwäbischen Alb und deckte auch den Bereich des heutigen Landkreises Esslingen ab. Im Durchschnitt besuchten 30 bis 70 Schüler pro Jahr die Schule.
Mädchen ab 1942
Bis zum Jahr 1877 wechselten die Schulleiter jährlich. Erster dauerhafter Schulvorstand war Landwirtschaftsinspektor Clausnitzer (bis 1887). Unter der Leitung von Oberlandwirtschaftsrat Hege wurde im Jahr 1942 erstmals eine Mädchenabteilung eingerichtet, die 1944 eine Lehrküche im Erdgeschoss erhielt.
Seit 1934 war der Landwirtschaftsschule auch eine Wirtschaftsberatungsstelle angegliedert, nach 1945 bezog an ihrer Stelle das staatliche Landwirtschaftsamt Büroräume im Gebäude Weibermarkt 4. Träger der Schule war zunächst der Landwirtschaftliche Bezirksverein, später der Kreis. Bemerkenswert ist, dass es dennoch bei der Zusage der Reutlinger Stadtverwaltung blieb, die Räumlichkeiten kostenlos zur Verfügung zu stellen. Es ist aber nachvollziehbar, dass von Zeit zu Zeit der Versuch unternommen wurde, diese Last an den eigentlichen Schulträger zurückzugeben.
Ab Ende der 1950er Jahre Jahren gingen die Schülerzahlen mehr und mehr zurück. Zur Schließung der Reutlinger Landwirtschaftsschule dürfte letztlich auch die Kreisgebietsreform beigetragen haben, die zum 1. Januar 1973 gültig wurde. Damit fiel die 1949 gegründete Münsinger Landwirtschaftsschule ebenfalls an den Kreis Reutlingen. So beging man nur zwei Jahre nach der 100-Jahr-Feier mit Wehmut am 17. März 1972 die letzte Abschlussfeier der Reutlinger Fachschule für Landwirtschaft. (eg)
AUSSTELLUNG
Das Stadtarchiv erinnert derzeit mit einer kleinen Ausstellung in einer Wandvitrine vor seinen Diensträumen an die Landwirtschaftsschule in Reutlingen und präsentiert neben Fotografien und archivalischen Dokumenten zur Schulgeschichte auch Schulmaterialien aus den stadtgeschichtlichen Sammlungen. Die kleine Archivalienschau ist bis Ende April zu den Öffnungszeiten der Rathaus-Eingangshalle zu sehen. (eg)