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Aktuell Interview

Sprecher der Reutlinger Gymnasien: Bildung hat nicht nur praktischen Nutzen

Rückkehr zu G9, neue Fächer und Umgang mit KI: Dr. Günter Ernst, Geschäftsführender Leiter der Reutlinger Gymnasien, über Ergebnisse des BaWü-Checks.

Musische Ausbildung wie Musik und Kunst scheint den Befragten des aktuellen BaWü-Checks nicht mehr wichtig. Der Rektor des Reutl
Musische Ausbildung wie Musik und Kunst scheint den Befragten des aktuellen BaWü-Checks nicht mehr wichtig. Der Rektor des Reutlinger AEG – im Bild Sängerinnen und Sänger des dortigen Unterstufenchors bei einem musikalischen Abend – wünscht sich, dass diese Fächer erhalten bleiben. Foto: Archivfoto: Spiess
Musische Ausbildung wie Musik und Kunst scheint den Befragten des aktuellen BaWü-Checks nicht mehr wichtig. Der Rektor des Reutlinger AEG – im Bild Sängerinnen und Sänger des dortigen Unterstufenchors bei einem musikalischen Abend – wünscht sich, dass diese Fächer erhalten bleiben.
Foto: Archivfoto: Spiess

REUTLINGEN. Das Institut für Demoskopie Allensbach widmet sich mit einem »BaWü-Check« im Auftrag der baden-württembergischen Zeitungsverlage einmal mehr der Schulpolitik. Die Befragung von 1.015 Personen als repräsentativer Querschnitt der Über-18-Jährigen im Land im Juni 2024 ergab unter anderem, dass fast drei Viertel die Rückkehr vom acht- zum neunjährigen Gymnasium sinnvoll finden. 70 Prozent der Bevölkerung und 72 Prozent der Eltern schulpflichtiger Kinder sprachen sich fürs sogenannte G9 aus, wie es vor 2004 üblich war. Der Wunsch-Fächerkanon scheint zum Teil widersprüchlich, wenn etwa Verständnis für politische Zusammenhänge als wichtig erachtet wird, aber historische Kenntnisse und Geschichte weit abgeschlagen rangieren. Allgemeinbildung, Rechtschreibung und Grammatik, Englischkenntnisse sowie Disziplin führen die Liste der schulischen Vermittlungsziele an. Nur 26 Prozent der Befragten sprechen sich für weitere Fremdsprachen wie Französisch und Spanisch aus. Und lediglich 17 Prozent finden Musik und Kunst sinnvoll. Viele fordern hingegen zusätzliche Fächer: Medienkompetenz, Umgang mit der sogenannten »Künstlichen Intelligenz« (KI) oder Erlernen einer Programmiersprache. Bezüglich KI sieht die große Mehrheit Aufholbedarf. Schulen vermittelten bislang nicht genügend, welche Chancen und Risiken damit verbunden sind.

Auch Dr. Günter Ernst hält als Geschäftsführender Schulleiter der fünf Gymnasien in Reutlingen die Allgemeinbildung hoch. Der GEA hat ihn zu KI im Unterricht und anderen Impulsen des aktuellen »BaWü-Checks« befragt.

GEA: Die Landesregierung hat die Rückkehr von G8 zu G9 beschlossen. Wie sieht die Stimmung dazu in Reutlingen aus?

Dr. Günter Ernst: Ich kann nur für die Gymnasien in Reutlingen sprechen. Wir sind verhalten optimistisch, also freuen uns darauf, wenn wir Möglichkeiten an die Hand bekommen, mit der Heterogenität besser umzugehen. Denn in Reutlingen haben wir derzeit eine Übertrittsquote von circa 50 Prozent eines Jahrgangs ans Gymnasium. Wir hoffen, dass uns mit dem zusätzlichen Jahr auch Ressourcen zuwachsen, mit denen wir für diese Bandbreite Modelle der Förderung und Profilierung entwickeln können.

Weshalb ist die Freude nur verhalten?

Ernst: Verhalten, weil wir auf der anderen Seite denken, dass damit noch mehr Schülerinnen und Schüler zu uns kommen. Weil da die Botschaft mitläuft, es geht mit G9 noch leichter am Gymnasium. Und das kann man nicht versprechen.

Zur Person

Dr. Günter Ernst (57) ist verheiratet und Vater von fünf Kindern. Der Oberstudiendirektor leitet seit 2012 das Reutlinger Albert-Einstein-Gymnasium (AEG) mit rund 1.000 Schülerinnen und Schülern in 41 Klassen und aktuell 101 Lehrern. Seit dem Pandemiejahr 2021 ist er zudem Geschäftsführender Leiter aller fünf Reutlinger Gymnasien und damit deren offizieller Interessenvertreter gegenüber der Stadt Reutlingen als Schulträgerin und dem Regierungspräsidium Tübingen als Schulaufsicht. Geboren und aufgewachsen in Bergisch Gladbach, studierte er in Bonn und Tübingen Germanistik, Katholische Theologie und Pädagogische Psychologie. Das Referendariat absolvierte er von 1995 bis 1997 in Nürtingen und Leonberg, die erste Vollzeitstelle führte ihn nach Ulm. Während der Elternzeit promovierte er und wechselte im Jahr 2000 ans Reutlinger Johannes-Kepler-Gymnasium. (GEA)

Dass die ersten G-8-Züge eingeführt wurden, ist nun 20 Jahre her. Rein vom Organisatorischen: Ist es ein Riesenaufwand, jetzt wieder aufs neunjährige Gymnasium umzustellen?

Ernst: Wir wissen bisher noch nichts über die geplante Umsetzung. Das macht uns schon ein bisschen unruhig, denn die Ansage ist ja, dass auch der jetzige Fünfer-Jahrgang, den wir für Sommer 2024 schon aufgenommen haben, in den sechsten Klassen in den Genuss von G9 kommen soll. Die Eltern fragen natürlich: Wie wird das sein? Wir gehen davon aus, dass es für die Schulen mit erheblichem Aufwand verbunden sein wird, das alles umzusetzen. Weil es ja nicht darum gehen wird, die Pläne von 2004 oder den Jahren davor wieder aus der Schublade zu ziehen. Das Ganze muss neu gestaltet werden. Denn seither ist ganz viel Zeit vergangen und unsere Schülerschaft ist eine andere als in den Zeiten des alten G9.

Dr. Günter Ernst ist Direktor des Reutlinger AEG und Geschäftsführender Leiter aller Reutlinger Gymnasien.
Dr. Günter Ernst ist Direktor des Reutlinger AEG und Geschäftsführender Leiter aller Reutlinger Gymnasien. Foto: Frank Pieth
Dr. Günter Ernst ist Direktor des Reutlinger AEG und Geschäftsführender Leiter aller Reutlinger Gymnasien.
Foto: Frank Pieth

Ist da der Fächerkanon noch zeitgemäß? Sind Kunst und Musik verzichtbar? Oder wird deren Bedeutung unterschätzt?

Ernst: Ich würde mir wünschen, dass das nicht vernachlässigt wird. Wir sind als allgemeinbildendes Gymnasium vielleicht unter den letzten, die so etwas noch hochhalten: die musischen Fächer als auch die große Auswahl an Fremdsprachen. Das ist getragen von einem Bildungsbegriff, der über den praktischen Nutzen hinausgeht. Ich wünsche mir auf jeden Fall, dass das erhalten bleibt. Denn damit ginge viel verloren.

Sollten dazu Fächer wie Medienkompetenz, Umgang mit KI oder Programmiersprachen aufgenommen werden?

Ernst: Wir machen schon ganz viel in Sachen Medienerziehung und auch in der fachlichen Profilierung der Informatik. Da ist in den letzten Jahren sehr viel passiert. Profilfächer sind entstanden, Schulversuche mit dem Leistungskurs in der Oberstufe, obligatorische Informatik in Klassenstufe 7 und 10. Da sind Entwicklungen im Gang, die auch die MINT-Fächer stärken.

Wie wird die KI einbezogen?

Ernst: Wir haben hier eine rasante Entwicklung. Ich finde das sehr klischeehaft, was in dieser Hinsicht bei der Umfrage herausgekommen ist. Es trägt dem nicht Rechnung, womit wir umgehen. Wir sind auf das KI-Thema etwa bei der Leistungsmessung schon längst gestoßen. Weil wir eben immer stärker davon ausgehen müssen, dass KI genutzt wird. Da hat eine Auseinandersetzung begonnen, und zwar in zwei Richtungen: Einmal gibt es Initiativen, dass man KI methodisch integriert und im Unterricht nutzt. Zum Zweiten gehen wir in der Leistungsbeurteilung, wenn oder weil wir es nicht überprüfen können, ob Dinge durch KI generiert sind, wieder stärker zur Mündlichkeit, etwa in zusätzlichen Kolloquien, in denen wir feststellen, ob die vorliegende Arbeit tatsächlich auf geistiger Eigenleistung beruht.

Also gilt es, die neuen Möglichkeiten sowohl zu kontrollieren als auch zu nutzen?

Ernst: Das sind die beiden Bewegungen. Auf der einen Seite die Ebene der Kontrolle, stärker auf andere Prüfungsformate zu gehen, in denen KI keine so große Rolle spielt. Und auf der anderen Seite Möglichkeiten zu finden, KI einzubeziehen und ihre Nutzung als Teil der Medienkompetenz zu schulen.

Wie beurteilen Sie die laut Umfrage favorisierten Fächer?

Ernst: Die Auflistung scheint eine wilde Mischung aus dem Bedarf an kulturellen, personalen, sozialen Kompetenzen und dem Instrumentellen wie »ich will eine Programmiersprache beherrschen«. Es kommt wirklich drauf an, dass man das nicht einfach gegeneinander ausspielt. (GEA)