REUTLINGEN. Die Innenstädte befinden sich im rasanten Wandel: Immer mehr Einzelhändler geben auf, große Ketten wandern ab oder verkleinern sich. Die Folge ist oft Leerstand, selbst in Premiumlagen. Wenn dann auch noch die Hausbesitzer kein Interesse habe, Gewerbefläche in Büros oder Wohnungen umzuwandeln, veröden teils ganz Straßenzüge.
Für Oberbürgermeister Thomas Keck war die Wohnungspolitik von Beginn an eines seiner Kernthemen. Mehr Wohnraum schaffen, auch und gerade im Bestand in der Innenstadt, lautete sein Credo schon im Wahlkampf. Allerdings ist dies in der Realität gar nicht so einfach. Denn etliche Häuser in Reutlingen gehören Menschen, die gar nicht mehr in Reutlingen leben. In vielen Fällen sind es Erbengemeinschaften, deren Mitglieder in ganz Deutschland verstreut sind. An sie heran zu kommen und sie dazu zu bewegen, aktiv zu werden, gestaltet sich schwierig bis unmöglich. Grund ist der Datenschutz, der eine Kontaktaufnahme untersagt, obwohl die Eigentümer der Stadt bekannt sind: »Unser Land verreckt nochmal am Datenschutz«, schimpft Keck.
Aber: Den Kopf in den Sand stecken und den Dingen seinen Lauf lassen, ist auch keine Option. Die Stadt hat Chancen, sind nicht nur die Verwaltung, sondern auch Experten, Gewerbetreibende und Immobilieneigentümer überzeugt. Welche das sind und wie die aktuelle Lage ist, wurde im ersten Informationsforum »Wohnen in der Innenstadt« beleuchtet.
Wie ist der Status quo in der Reutlinger Innenstadt?
Die Leerstandsquote im gesamten Reutlinger Stadtgebiet liegt bei 3,3 Prozent, das hat die Erhebung des Zensus ergeben. Das bedeutet, in der Innenstadt stehen etwa 220 Wohnungen leer. Damit ist Reutlingen zwar besser als der Landesschnitt mit 4,3 Prozent, aber angesichts der hohen Nachfrage ist dies noch immer zu hoch. Vor allem, weil die »Innenentwicklung immer vor der Außenentwicklung steht«, erklärt GWG-Geschäftsführer Bruno Ruess. Das heißt, man sollte möglichst neuen Wohnraum im Bestand schaffen. Beispielsweise auch in leeren Obergeschossen über Läden, von denen es in Reutlingen einige gibt.
Wie haben sich die Innenstädte entwickelt?
Ein kleiner Blick in die Geschichte macht deutlich, welchem Wandel die Innenstädte unterworfen waren und es aktuell auch wieder sind. Mitte des 20. Jahrhunderts begann Deutschlands wirtschaftlicher Aufstieg, die Menschen wurden wohlhabender, der Konsum nahm zu. Das veränderte auch das Bild der Innenstadt. War diese zuvor noch gemischt genutzt, wurde es immer »monothematischer«, erklärt Hans Weprich, Projektleiter von der Firma ecostra, die eine Standortanalyse für Reutlingen macht. »Die Innenstadt war plötzlich geprägt vom Einzelhandel.« Die Mieteinnahmen für gewerbliche Immobilien waren hoch, der Handel florierte, die Wohnungen wurden weniger. Nach diesen guten Jahren begann die Krise, oder vielmehr, »die Multi-Krise«, wie Weprich erklärt: Online-Handel, Corona, Ukraine-Krieg, Energie-Krise und Inflation machten und machen dem lokalen Einzelhandel das Leben schwer.
Was sind die Folgen für die Innenstädte?
Kleine Gewerbetreibende haben zu kämpfen, immer mehr geben auf oder verkleinern ihre Verkaufsfläche. Die Gewerbemieten sinken, »dadurch kommen neue Akteure in die Innenstadt, die sich das früher nicht leisten konnten: Discounter, Friseure, Nagelstudios«, beobachtet Weprich. Das Ladenangebot ändert sich und erste Leerstände ziehen weitere nach sich. Der Experte spricht von einer »Trading-down-Spirale«, die eine Gefahr für Innenstädte darstellt, da diese oft »besonders vulnerabel« seien.
Was kann die Innenstadt retten?
Ein Lösungsansatz ist die Rückkehr zum »Mixed Use«, also der Mischnutzung, »Wohnen muss wieder zum Nutzungsbaustein einer Innenstadt werden,« sagt Weprich. Für die Innenstadt-Bewohner müsse das Umfeld dann auch schön werden, wünscht sich Architekt Ulrich Schwille, etwa mit Freiflächen, grünen Höfen, Raum für Kinder und Senioren. So können neue Treffpunkte entstehen. Reutlingen sei spannend und abwechslungsreich, daher könne das durchaus gelingen.
Warum lassen so viele Hausbesitzer Wohnraum leerstehen?
»Oft ist die Erschließung der Obergeschosse eher schwierig«, weiß Architekt Schwille, etwa, wenn der Zugang nur über die Ladenräume möglich ist. Weiteres Hindernis: »Es gibt ein enges Korsett an Vorschriften«. Sei es der Brandschutz, die Erdbebensicherheit, Mindestabstände oder anderes: Hauseigentümer müssen viele Hürden und viel Geld in die Hand nehmen, wenn sie neuen Wohnraum schaffen wollen. Die Investitionen seien hoch, das bestätigt Professor Andreas Link, Geschäftsführer der imtragis GmbH, der sich mit der Entwicklung auf dem Immobilienmarkt beschäftigt. Allerdings stehe den Ausgaben eine hohe Wertschöpfung gegenüber, weshalb er Hauseigentümer zu diesem Schritt ermutigen will. Umbauen sei zwar aufwändiger als Neubauen, aber auch schöner: »Es lohnt sich.«
Was sind die besonderen Sorgenkinder in Reutlingen?
In der Wilhelmstraße Wohnraum neu zu schaffen, ist in einigen Fällen eine wahre Herausforderung. »Hier muss man sich Haus für Haus anschauen«, ist Schwille überzeugt. In einigen wird es nicht gelingen, aber andere Objekte könnten sich durchaus eignen. Schwieriger wird es mit Sicherheit in der Kanzleistraße, diese wird als Geschäftslage nicht mehr zu reaktivieren sein, fürchtet Weprich. Sie wird ihr Gesicht also komplett wandeln. »Hier wird es irgendwann eine Erneuerung geben«, ist auch Thomas Keck überzeugt. Der Wandel sei aber auch sonst nicht mehr aufzuhalten - »keiner darf glauben, dass es wieder so wird, wie es war«.
Hoffnungsschimmer: Es gibt auch gelungene Beispiele
Aber auch die Zukunft kann Schönes bringen, davon zeugen Beispiele für gelungene Wohnraumnutzung inmitten der Innenstadt, die Mut machen sollen. Hans Wucherer beispielsweise hat über der Bäckerei die frühere Wohnung reaktiviert, in der einst schon sein Vater gewohnt hat. Zwar waren Investitionen notwendig, aber er hat damit Wohnraum geschaffen, der dringend benötigt wird. »Einfach mal machen und zeigen, dass es geht«, war seine Devise. Auch über Silke Brucklachers Dessousladen befinden sich mehrere Wohnungen. Nicht nur die Einzelhändlerin selbst lebt dort, sondern auch eine indische Familie und Studenten in einer Wohngemeinschaft. Brucklacher liebt die Reutlinger Innenstadt und freut sich über die Aufbruchstimmung, die derzeit zu spüren sei.
Wie geht's weiter?
Miteinander ins Gespräch kommen: Das war den Initiatoren des Informationsforums wichtig - die Resonanz war besser als erwartet und stimmt hoffnungsvoll. Denn dies war erst der Auftakt zu weiteren Treffen und Versuchen, ungenutzte Flächen in der Innenstadt nicht weiter brachliegen zu lassen. Auch von einer Änderung des Baurechts, die in Baden-Württember kommen soll, versprechen sich die Experten einiges - sie könnte den Umbau im Bestand erheblich vereinfachen. (GEA)
Informationsforum »Wohnen in der Innenstadt«
In Kooperation mit Haus & Grund Reutlingen und Region e. V. hat die Stadt erstmals zu einem Informationsforum eingeladen, das sich dem Wohnen in der Innenstadt widmet. Die Veranstalter möchten Gebäudeeigentümer ermutigen, leerstehenden Wohnraum zugänglich zu machen. Zu Gast waren Experten aus vielen Bereichen, darunter Vertreter der Stadtverwaltung, der Klimaschutzagentur, der GWG Reutlingen, Architekten und Immobilieneigentümer. (awe)