REUTLINGEN. Krach, Abgase, erhöhte Unfallrisiken - wenn Gerhard Pflumm vor die Haustür tritt, sind es zuverlässig diese drei unangenehmen Alltagsbegleiter, die ihn begrüßen und der Lebensqualität aller, die wie er am Saum der Tübinger Straße wohnen, abträglich sind. Denn das Auto-Aufkommen hier ist immens.
Nicht, dass die weststädtische Verkehrsader jemals eine beschauliche Flaniermeile gewesen wäre. Nein, das nun wirklich nicht. Doch die Blechlawine, die sich - sogar jenseits frühmorgendlicher und abendlicher Stoßzeiten - über die Fahrbahnen wälzt, hat binnen der zurückliegenden Dekade deutlich an Wumms gewonnen. »Seit Öffnung des Scheibengipfeltunnels und Einführung eines Lkw-Verbots auf der Konrad-Adenauer-Straße«, erinnert sich Pflumm, »wurde es schlimmer und schlimmer«.
Daran änderten weder fortgeschriebene Lärmaktionspläne, noch Messungen etwas. Und selbst die Einführung von Tempo 30 zeitigte offenbar keinen spürbar positiven Effekt. Denn: Wer hält sich eigentlich an besagtes Limit? »Nur wenige«, hat Gerhard Pflumm beobachtet. Das Gros der Automobilisten - Busfahrer inklusive - sei klar schneller unterwegs. Was den Ruheständler im Übrigen kaum wundert. Verleite die Tübinger Straße seiner Meinung nach doch dazu, Gas zu geben: »wegen ihres Verlaufs«.
»Der ist bolzengerade« und lasse die Fahrbahn Boulevard-mäßig ausladend erscheinen - eine Kombination, die, zum munteren Voranpreschen nachgerade animiere. Weswegen es wünschenswert wäre, wenn an Ort und Stelle mehr Geschwindigkeitskontrollen durchgeführt würden. Noch zweckdienlicher wäre es freilich, wenn die Stadt bauliche Veränderungen vornehmen ließe. Fußgängerquerungshilfen im Bereich des Kindergartens und der Bushaltestellen zum Beispiel sowie eine (optische) Verschlankung der Fahrbahnen mittels Schikanen.
Forderungen, die nicht erst seit gestern im Straßenraum der Tübinger Vorstadt stehen. Formuliert wurden sie nämlich bereits im November 2019, als eine Bürgerinitiative um Gerhard Pflumm Seit' an Seit' mit der SPD-Gemeinderatsfraktion auf die verkehrlichen Missstände in Reutlingens Westen aufmerksam gemacht hatte. Damals wie heute ging es um überprüfte Entschleunigung und optische Verschlankung, damals wie heute ging es außerdem um ein Durchfahrtsverbot für Lastwagen ab 3,5 Tonnen. Getan hat sich diesbezüglich allerdings nichts.
Wiewohl die Stadtverwaltung – auf dieses Detail legt Pflumm Wert – nicht gänzlich untätig gewesen sei. Denn immerhin: Eine vor fünf Jahren angemahnte Sicherheitsabsperrung zwischen Kinderhaus-Entree und Fahrbahn wurde zeitnah installiert. Und auch dem Wunsch nach plakativen Hinweisen auf womöglich unvermutet kreuzende Kindi-Kinder wurde Folge geleistet: mittels auf den Asphalt gepinselter Warndreiecke und zweier Hinweisschilder.
Trotz Ferien: stark frequentiert
Ansonsten aber: alles wie gehabt. Trotz sommerlöchriger Ferienzeit ist die Tübinger Straße beim Pressebesuch bemerkenswert stark frequentiert. »Sechs Buslinien«, sagt Pflumm, »werden hier demnächst fahren. Bislang waren es bloß drei.« Auch habe der Schwerlastverkehr zugenommen. Und weil entlang der Tübinger Straße unter anderem Gewerbebrachen in modernen Wohnraum umgewandelt wurden, hat der Quellverkehr ebenfalls zugelegt.
Vor diesem Hintergrund blickt Gerhard Pflumm mit leisem Grausen auf die Bosch-Werkserweiterungen in der Bantlinstraße, das im Werden begriffene Diakonische Zentrum der benachbarten Christuskirche im Lohmühleweg sowie auf die bauliche Verdichtung des Stoll-Areals nebst Schaffung von Wohnraum, Gastronomie und Veranstaltungsflächen.
Zusätzliche Berufspendler und Kulturgänger
Dass jedes dieser Vorhaben richtig und wichtig ist - der Ruheständler, der seine Brötchen einst als Freier Architekt verdiente und städtebauliche Erfahrungen sammeln durfte, stellt’s keineswegs in Abrede. Bedenklich stimmt ihn indes ein mit besagten Projekten unweigerlich einhergehendes Plus an rollendem Blech. »Wenn da nicht gegengesteuert wird, kommt es in der Tübinger Straße wahrscheinlich dicker denn je.« Man denke nur an zusätzliche Berufspendler und Kulturgänger.
Deshalb hat Pflumm unlängst einen Brief an Baubürgermeisterin Angela Weiskopf und Verkehrsplaner Gerhard Lude geschickt. Darin legt er dar, dass die Tübinger Straße »laut Plänen der Lärmerhebung« schon vor geraumer Zeit »als Hotspot« identifiziert wurde und dass es - wie 2019 bereits vorgeschlagen - sinnvoll wäre vorhandene Fußgänger-Bedarfsampeln zur Verkehrslenkung einzusetzen: Wer zu schnell auf sie zubraust, sieht Rot, wer Tempo 30 auf dem Tacho hat, darf passieren. Die Zeit für derlei strategische Bremsen, so Gerhard Pflumm, sei überreif.
Mit ausgestrecktem Arm deutet er auf die Häuserfront gegenüber. Sämtliche Gebäude wirken, obschon äußerlich überwiegend hübsch anzuschauen, mausetot: runtergelassene Rollläden allenthalben. »Nicht nur jetzt«, weiß Pflumm, schotten sich die Menschen von der Tübinger Straße ab, sondern fortwährend. Dahinter stehe das Bestreben, Abgase und Lärm von den eigenen oder angemieteten vier Wänden so gut wie eben möglich fernzuhalten. Die pralle Sonne ebenfalls.
Unbarmherzig, weil ungehindert heizt sie die Tübinger Straße auf. Während in den Seitenarmen und -ärmchen der Verkehrsader mit Fördermitteln des Bundes wenigstens vereinzelte Bäumchen gepflanzt wurden, ist die Tübinger Straße nämlich leer ausgegangen. Schattenspendendes Grün sucht man hier vergebens. Ob das Methode hat?
Warum, fragt sich Pflumm gehen die Anwohner der Tübinger Straße eigentlich bevorzugt leer aus, wenn es um Maßnahmen zur Steigerung der Lebensqualität geht? »Hat man uns vergessen?« Manchem drängt sich mittlerweile dieser Verdacht auf. Übrigens auch besagter Bürgerinitiative des Jahres 2019, die sich zwischenzeitlich aufgelöst hat. Einige Aktivisten sind weggezogen, andere haben schlicht resigniert. Als einsamer Rufer in der Betonwüste ist lediglich Gerhard Pflumm übriggeblieben - und fand unlängst sogar Gehör: im Reutlinger Baudezernat.
Mobilitätskonzept in der Mache
Sein Brief an Bürgermeisterin Weiskopf wurde nämlich prompt beantwortet. Vollumfänglich zufrieden macht der Inhalt ihrer Replik den Ruheständler zwar nicht. Immerhin gibt er aber Anlass zur Hoffnung. Vor allem folgende Pläne lesen sich für Pflumm ermutigend: Dass die Stadt ein Mobilitätskonzept für die Tübinger Vorstadt in der Mache hat und untersucht, wie hier der Verkehr und das Parken funktionieren. Ziel ist ein ganzheitlicher Ansatz, der Fuß- und Radverkehr, Sharingmodelle und Parkierung unter die Lupe nimmt und darauf abzielt, den motorisierten Verkehr zu reduzieren. Hierfür ist auch eine Haushaltsbefragung gegen Ende dieses Jahres geplant. (GEA)