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Aktuell Prozess

So tickt der Reutlinger Reichsbürger Markus L.

Der Reutlinger Reichsbürger, der im März 2023 das Feuer auf SEK-Beamte eröffnete, schweigt vor Gericht. Jetzt liegt ein psychiatrisches Gutachten vor.

Ein Justizbeamter steht in einem Saal des Oberlandesgerichts Stuttgart. Die Raumteiler bestehen aus kugelsicherem Glas, immerhin
Ein Justizbeamter steht in einem Saal des Oberlandesgerichts Stuttgart. Die Raumteiler bestehen aus kugelsicherem Glas, immerhin sitzen hier mehrere mutmaßliche Reichsbürger. Foto: Marijan Murat/dpa/dpa
Ein Justizbeamter steht in einem Saal des Oberlandesgerichts Stuttgart. Die Raumteiler bestehen aus kugelsicherem Glas, immerhin sitzen hier mehrere mutmaßliche Reichsbürger.
Foto: Marijan Murat/dpa/dpa

REUTLINGEN/STUTTGART. »Höflich, respektvoll und zuverlässig« – so haben Zeugen den Angeklagten im bisherigen Prozessverlauf beschrieben. Doch wie passen diese positiven Eigenschaften zu den schweren Straftaten, die ihm vorgeworfen werden? Seit April 2024 läuft der umfangreiche Prozess gegen eine neunköpfige Gruppe, die als Teil einer terroristischen Vereinigung und der Reichsbürgerszene um Prinz Reuß gilt. Der Angeklagte Markus L. steht zusätzlich wegen versuchten Mordes vor Gericht. Im März 2023 schoss der waffenbegeisterte Mann bei einer Wohnungsdurchsuchung in Reutlingen auf SEK-Beamte. Der Einsatz endete, als der Angeklagte sich ergab. Das Bodycam-Video eines Beamten gibt Einblicke in das Geschehen nach der Festnahme.

Auf dem Video ist zu sehen, wie der entkleidete Markus L. mit gesenktem Kopf und hinter dem Rücken gefesselten Händen aus der Eingangstür eines Mehrparteienhauses im Reutlinger Stadtteil Ringelbach geführt wird. Es ist 5.54 Uhr am Morgen. Im Hintergrund sind laute Anweisungen wie »Nicht wehren!« und »Weitergehen!« zu hören. Markus L. bleibt während der gesamten Szene auffällig ruhig. Von dem »erheblichen Widerstand«, der an den vorherigen Verhandlungstagen thematisiert wurde, ist in dieser Aufnahme nichts zu erkennen. Was genau an jedem Morgen im Kopf des Schützen vorging, bleibt Spekulation. Ein psychiatrischer Gutachter versucht nun, Licht ins Dunkel zu bringen.

Kurze Zeit bei der Bundeswehr

Der Neurologe und Psychiater prüft die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Das bedeutet einfach gesagt: Ist der Angeklagte schuldfähig? Dafür wurde unter anderem Markus L.s Lebenslauf untersucht, der jedoch wenig außergewöhnlich sei, wie der Sachverständige betont. L. habe einen Haupt- oder Realschulabschluss gemacht und anschließend, von 1993 bis 1996, eine Ausbildung abgeschlossen. Danach diente er bei der Bundeswehr und verließ diese im Rang eines Obergefreiten. Im Anschluss arbeitete er etwa 15 Jahre lang bei der Firma Bosch. In dieser Zeit heiratete er eine 13 Jahre jüngere Frau türkischer Herkunft. Zu seiner Mutter und seinen Brüdern bestand ein gutes Verhältnis. »Mehr konnte ich nicht zusammentragen«, resümiert der Gutachter und widmet sich anschließend den möglichen psychischen Störungen.

Leidet der Angeklagte an einer Schizophrenie, Psychose oder bipolaren Störungen? »Wir haben hier im Gericht oft mit psychischen Erkrankungen zu tun«, erklärt der Experte ganz allgemein. »Im Fall von Markus L. konnte ich jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür finden.« Diese Einschätzung stützen auch die Aussagen der Zeugen, die den anfänglichen Eindruck des Gutachters während der Verhandlung bestätigten. »Man konnte ihn im Gericht oft genug beobachten. Mein intuitiver Eindruck nach vielen Stunden bleibt, dass der Angeklagte zumindest in psychischer Hinsicht ein sehr normaler und ausgeglichener Mensch ist. Ich gehe davon aus, dass etwaige Auffälligkeiten während der Haft sichtbar geworden wären.« Zudem habe Markus L., ein leidenschaftlicher Sportschütze, keine Probleme mit Rauschmitteln gehabt, und auch »Schwachsinn« aufgrund mangelnder Intelligenz sei auszuschließen.

Angeklagter nach Festnahme auffallend ruhig

Zu prüfen blieb demnach nur noch die sogenannte »psychische Abartigkeit«. »Darunter fallen Störungen wie Persönlichkeitsstörungen, dissoziale Verhaltensweisen oder emotionale Instabilität«, erläutert der Sachverständige. »Auch dafür habe ich keine Anhaltspunkte gefunden.« Das einzige, was der Neurologe als »in Anführungszeichen auffällig« bezeichnet, sei die ablehnende Haltung des Angeklagten gegenüber der Corona-Impfpflicht. Doch diese Meinung hätten viele Deutsche vertreten.

Was bleibt also noch? Könnte Markus L. am Tattag in einem psychischen Ausnahmezustand gewesen sein, der durch die Belastung der Konfrontation ausgelöst wurde? »Das ist möglich«, sagt der Experte. Da der Angeklagte selbst jedoch schweigt, könne man das weder bestätigen noch ausschließen. Von typischen Symptomen eines solchen Zustandes, wie Zittern oder extreme Ängstlichkeit, war unmittelbar nach der Festnahme nichts zu sehen. Ob Markus L. vielleicht starkes Herzklopfen oder Nervosität verspürt habe, wisse nur er selbst. SEK-Beamte, die am Einsatz beteiligt waren, zeigten sich zumindest verdutzt darüber, wie »ruhig und gefasst« der Schütze gewirkt habe – trotz der auch für ihn lebensbedrohlichen Situation.

Gründe bleiben diffus

»Was man mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, ist, dass Markus L. geistesgegenwärtig war und die Situation verstanden hat. Das zeigen zum einen die Gegenfragen, die er teilweise gestellt hat, und vor allem seine Ergebung, die eine bewusste Abwägung der Möglichkeiten vorausgesetzt haben muss«, erklärt der Neurologe. Daraufhin stellt Richter Joachim Holzhausen die Frage, die alle im Saal beschäftigt: »Wie passen diese Erkenntnisse zur Tat?«

Die mögliche Erklärung des Sachverständigen lautet: »Antizipation oder Erwartungshaltung«. Antizipation bedeutet, dass man ein Ereignis vorwegnimmt oder in Betracht zieht, dass es eintreten kann. In Kombination mit der vermeintlichen ideologischen Überzeugung des Angeklagten und den bereits griffbereiten, geladenen Waffen könnte es zu einer »gewissen Bahnung« gekommen sein. »Gelegenheit macht manchmal Diebe – im übertragenen Sinne«, schließt der Sachverständige seine Einschätzung ab. Von einer Schuldunfähigkeit könne man eindeutig nicht sprechen. Markus L. blieb während der gesamten Ausführung, wie gewohnt, reaktionslos. (GEA)