REUTLINGEN. Kurios: In Reutlingen hat es - der GEA berichtete im August 2015 - einen Frauenstammtisch gegeben, dessen Teilnehmerinnen sich trotz regelmäßiger Dienstagstreffen über dreißig Jahre hinweg konsequent gesiezt haben, ehe sie irgendwann doch noch zum Du übergingen. Ein Schritt, den jüngst auch Landrat Dr. Ulrich Fiedler vollzogen hat. Allerdings nicht in fideler Stammtischrunde, sondern beruflich. Alle Mitarbeiter dürfen ihren obersten Chef jetzt duzen - wenn sie mögen (siehe oben stehenden Artikel). Deshalb mal auf der Wilhelmstraße nachgefragt: Wie halten es Passanten mit dem Duzen und Siezen?
Friederike Nowak: »Der oder die Ältere muss einem das Du anbieten«
»Ich halte es damit klassisch«, sagt Friederike Nowak. »Das heißt, dass ich auf die Spielregel achte, dass der oder die Ältere einem das Du anbieten muss. Andersrum wäre es für mich ein Fauxpas, wäre plump.« Auch deswegen, weil das Sie für die 69-Jährige »etwas mit Respekt und Haltung vor dem Gegenüber zu tun hat. Das Sie schafft zurückhaltende Distanz, die Sympathie trotzdem nicht ausschließt. Ich bin eben so erzogen worden. Das Sie ist für mich eine Frage des Benimms und guten Stils.« Selbst im Kollegenkreis, verrät die Sekretärin im Ruhestand, habe man lange Zeit aufs Duzen verzichtet. »Er kurz vor meiner Verrentung hat sich das geändert.«
Monika Flohr: »Beruflich waren Dus und Sies hierarchisch geregelt«
Ganz anders die Einstellung von Monika Flohr, der oft unwillkürlich ein Du rausrutscht. Nämlich immer dann, wenn die 62-Jährige einen Menschen charmant findet. »Das ist wie ein Automatismus bei mir. Wenn ich jemanden mag, gehe ich zum Du über.« Ob die Balingerin damit aneckt? »Bislang nicht. Die Leute nehmen’s schmunzelnd zur Kenntnis. Vielleicht spüren sie ja intuitiv, dass dieses Du ganz fest in mir drin ist.« Beruflich hat die Medizintechnikerin ihre Brötchen unter anderem an Krankenhäusern verdient. Dort »waren Dus und Sies hierarisch geregelt«. Konkret: »Ranghöhere Kollegen wurden von mir gesiezt, die anderen - das Bodenpersonal, zu dem ich mich dazurechne - nicht.«
Ingolf Richter: »Das Du ist ein Ausdruck starker Vertrautheit«
Und was meint Ingolf Richter? »Für mich ist das Du ein Ausdruck starker Vertrautheit.« Egal ob im Berufsleben oder in der Freizeit - »das Du ist bei mir grundsätzlich Menschen vorbehalten, die ich näher kenne und sympathisch finde«. Vor diesem Hintergrund mutete es dem 51-Jährige »ziemlich eigentümlich an, dass sich in meinem Fitnessstudio alle duzen. Als ich da die ersten Male hinkam, hat sich dieses Du befremdlich angefühlt. Inzwischen ist es zur Normalität geworden. Gewöhnung halt.«
Julian Müller: »Total komisch, als mich die Lehrer plötzlich mit Sie angesprochen haben«
Gewöhnung auch bei Julian Müller (46), der sich noch lebhaft daran erinnert, dass er es zu Gymnasialzeiten »total komisch« fand, »als mich die Lehrer plötzlich mit Sie angesprochen haben. Das war, glaube ich, in der elften Klasse oder so.« Letztlich konnte man sich auf eine Mischform verständigen: »Vorname und Sie«. Was indes nicht auf die Straße, den Bankschalter oder den SB-Markt übertragbar war. »Da wurde ich irgendwann von allen gesiezt und irgendwann war das okay.« So wie es für Müller außerdem okay ist, dass sich in seiner Firma alle duzen - inzwischen auch mit dem Chef. »Der hat’s uns angeboten.« Und wie hat die Belegschaft darauf reagiert? »Positiv. Wobei mir das Du zunächst nicht leicht über die Lippen gekommen ist. Wenn man sich lange Zeit gesiezt hat, geht das in Fleisch und Blut über. Einfach den Schalter umlegen, das funktioniert bei mir in diesem Punkt nicht. So wurde erst mal ein Eiertanz draus zwischen Dusiedusie und Siedusiedu.«
Gordana Maric: »Erst Sie und dann Du, diese Umstellung braucht Zeit«
Dieses Hin-und-her-Gehüpfe kann Gordana Maric bestens nachvollziehen. »Das ging mir auch schon so«, sagt die 47-Jährige. »Erst Sie und dann Du, diese Umstellung braucht ihre Zeit.« Für die Reutlingerin kommt es darüber hinaus ganz entschieden auf den Ort und das Umfeld des Kennenlernens an, wenn es ums Duzen oder Siezen geht. »Du auf einer Party passt, Du gegenüber Fremden auf der Straße nicht« - vor allem dann, wenn es sich »um Begegnungen mit Menschen handelt, die deutlich älter als ich sind. Ich würde einen Achtzigjährigen niemals spontan duzen. Das käme mir respektlos vor.«
Smilla Günthör: »Zu miesen Charakteren gehe ich lieber auf Distanz«
Was Maric mit Smila Günthör eint, die übrigens auch schon andersrum »geswitcht« hat - von Du auf Sie. »Ein Duz-Kollege hat mich so enorm verärgert, dass ich ihn seither sieze. Und dabei bleibt’s auch. Zu miesen Charakteren gehe ich lieber auf Distanz.« (GEA)