REUTLINGEN. Ziemlich spontan, am Dienstagabend, hatten Mitglieder des Bündnisses für Menschenrechte und des AK Flucht und Asyl die Idee, in Reutlingen eine Mahnwache zu organisieren. Als Protest gegen das Vorgehen von CDU-Chef Friedrich Merz in puncto Migration. Mit 50 Teilnehmern hatte das Orga-Team gerechnet. Doch diese Vorstellungen werden schließlich weit übertroffen. Rund 350 Menschen versammeln sich schließlich am Freitag gegen 17 Uhr auf dem Reutlinger Marktplatz: Schüler und Senioren, Mitglieder und Funktionäre von Grünen, SPD und Linken, Antifa-Mitglieder, Flüchtlingshelfer, Omas gegen Rechts, und viele mehr.
Traugott Huppenbauer vom AK Flucht und Asyl kritisiert den 5-Punkte-Plan von Merz als »reinen Populismus«. Es handle sich hier um »Symbolpolitik und Scheinlösungen, statt ernsthafter Suche nach Problemlösungen«. Die Vorschläge, welche die CDU am Mittwoch in den Bundestag eingebracht hatte, lösten »kein einziges Problem«. Sie jetzt einzubringen, sei »pure Wahlkampftaktik«. Kurze Pause, ein Blick aufs Handy - und Huppenbauer teilt der Menge mit, dass das CDU-Gesetz soeben von einer knappen Mehrheit im Bundestag abgelehnt worden ist. Applaus brandet auf dem Marktplatz auf, Menschen recken die Hände in die Höhe. Huppenbauer freut sich, spricht weiter: Der Beschluss des Bundestags vom Mittwoch bedeute zudem, dass man eine sehr heterogene Gruppe von Flüchtlingen pauschal für den Messer-Anschlag von Aschaffenburg verantwortlich mache. »Aber durchdrehen können nicht nur Migranten und Migrantinnen, sondern alle Bürger dieses Landes.«
Im Gespräch mit dem GEA berichtet Huppenbauer, dass die Organisatoren der Mahnwache vor der Abstimmung am Mittwoch Briefe an alle Reutlinger Bundestagsabgeordneten geschrieben hatten. Nur von CDU-Mann Michael Donth hätten sie eine Antwort bekommen, aber dieser habe den Merz-Kurs (erwartbar) verteidigt. Noch einen zweiten Brief bekam FDP-Mann Pascal Kober, der evangelischer Pfarrer ist. Und zwar wegen seiner Mitgliedschaft im Verein Evangelium und Kirche. Ob eine solche Abstimmung mit den christlichen Werten vereinbar sei? »Es kam keine Antwort«, berichtet Hans-Peter Häußermann vom AK Flucht und Asyl enttäuscht.
Kämpferische, freche bis in Teilen auch beleidigende Parolen sind an diesem Freitag auf den Schildern zu lesen, welche die Demonstranten hochhalten. Vom »Fascho-Fritz« ist da die Rede und von »Trumpismus auf Sauerländisch«, oder auch »CDU du dumme Kuh, mit den Faschos stimmst nur du«. Verena Nerz vom AK Flucht und Asyl ruft: »Die Brandmauer ist gefallen, wir sind die Löschkette«.
Während die Stimmung auf dem Marktplatz gut ist, ist der CDU-Stadtverbandsvorsitzenden Gabriele Gaiser nicht unbedingt nach Lachen zumute. In einer Demokratie müsse man andere Meinungen akzeptieren und eine Demonstration stehe jedem zu, betont sie. »Aber die Art und Weise des Austauschs ist hier zumindest zu hinterfragen und verwunderlich.« Sie störe sich auch am Begriff der Mahnwache, der vor allem mit Erinnerungen an Holocaust und Weltkrieg verbunden ist. Und auch daran, dass »kein Austausch auf sachlicher Ebene« gesucht worden sei. Sie habe von der Demo durch Zufall erfahren. Der Begriff Mahnwache sei »nicht reserviert« für bestimmte Veranstaltungen, findet dagegen Traugott Huppenbauer. »Und es soll ja eine Mahnung dafür sein, wie es nun politisch weitergeht.«
Das sieht auch der zweite Redner so: Pfarrer Dr. Joachim Rückle, unter anderem auch Geschäftsführer des Diakonieverbands Reutlingen. Das »ganze politische Drama« habe am Ende nur der AfD genutzt, sagt er. Er findet, dass CDU und AfD »auf ein gemeinsames Tor spielen«, auch »trotz aller Beteuerungen, im jeweils anderen den politischen Gegner zu sehen«. Denn das, was die CDU aktuell fordere, seien nun mal klassische AfD-Positionen, »triefend von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit«. Die Forderungen seien populistisch, undifferenziert und fahrlässig in Bezug auf das Zusammenspiel der gesamten Europäischen Union. Außerdem entfalte sich gerade eine »fatale Wirkung« auf alle Flüchtlinge, die schon im Land leben. »Und diese Position schreckt zudem dringend benötigte Arbeitskräfte aus dem Ausland ab, weil sie in allen Ausländern in erster Linie potenzielle Gewalttäter und Sozialschmarotzer sieht.« (GEA)