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Aktuell Jugendkultur

Reutlinger Zelle nach Sanierung wieder geöffnet

Fast ein Jahr lang war das autonome Jugendzentrum »Kulturschock Zelle« in Reutlingen geschlossen. Was das nötig gemacht hatte, und wie es jetzt weitergeht, davon erfuhr der GEA bei einem Rundgang.

Jochen (links) und Emanuel vom Zelle-Team vor der neuen Lüftungs- und Filteranlage und der selbst neu gebauten Außentheke auf de
Jochen (links) und Emanuel vom Zelle-Team vor der neuen Lüftungs- und Filteranlage und der selbst neu gebauten Außentheke auf der Echaz-Insel. Foto: Frank Pieth
Jochen (links) und Emanuel vom Zelle-Team vor der neuen Lüftungs- und Filteranlage und der selbst neu gebauten Außentheke auf der Echaz-Insel.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN. Naomi Votteler, Heilerziehungspflegerin und nebenberuflich DJane, bemalt abends in der »Zelle« eine »Alien«-Büste. In fluoreszierendem Grün auf schwarzem Grund. Neben der 27-Jährigen steht auf dem Boden zur Theke hin eine mannsgroße Styropor-Spinne. Auf der Tanzfläche im 150 Quadratmeter großen Gastraum der Reutlinger Albstraße 78 wird an einem käferartigen Rohrgestell geschweißt. Auch im Obergeschoss sind junge Leute am Werkeln: Auf Malervlies auf dem Boden wächst ein meterlanges Pappe-Gips-Gebilde aus schleimigen Kugelformen mit hochragenden Tentakeln heran.

In dem bunt bemalten Pavillon, den der seit 1981 als Träger außerschulischer Jugendbildung anerkannte Kulturverein 1996 nach jahrelangen Standortquerelen bezog, stehen die Zeichen auf Grusel. Wie Naomis aus Styropor und Gips geformte Figur sollen für die anstehende Halloween-Party am 31. Oktober beide Ebenen und der Außenbereich Ridley Scotts Horrorfilm »Alien« aufleben lassen. Unter dem Motto »Das Wesen aus einer fremden Welt« werden Räume und Einrichtung im Stil der vom Schweizer Künstler HR Giger entworfenen Außerirdischen geschmückt. Vorlagen dafür hängen an der Wand über einer psychedelisch anmutenden gesprayten Weinbergschnecke.

Naomi bemalt einen »Alien«-Kopf für die anstehende Halloween-Party.
Naomi bemalt einen »Alien«-Kopf für die anstehende Halloween-Party. Foto: Frank Pieth
Naomi bemalt einen »Alien«-Kopf für die anstehende Halloween-Party.
Foto: Frank Pieth

Halloween hat in der »Zelle« wie die »Heilige Party« an Heiligabend und das Rockkonzert an Weihnachten Tradition. Dazu strömen zusätzlich zu den 18- bis 30-jährigen Stammgästen Festtagsheimkehrer jeden Alters und Stils aus Reutlingen und der Region auf die Echazinsel. Die »Zellis« rechnen zur Grusel-Party mit 600 Gästen. Am Heiligen Abend werden es auch mal mehr. Bei den jüngsten Punk-Konzerten lag die Besucherzahl zwischen 100 und 250 Leuten, die bis vom Bodensee und der Stuttgarter Gegend anreisten.

Der diesjährigen Grusel-Party des 1968 bis 1980 zunächst mitten in der Stadt - am Karlsplatz - und danach in einer alten Fabrikhalle in der Oberen Wässere noch zentrumsnäher als jetzt beheimateten subkulturellen Zentrums, seit den 1980-ern mit dem Zusatz »Kulturschock«, kommt eine besondere Bedeutung zu. Denn es ist die erste richtig große Veranstaltung nach einer fast einjährigen sanierungsbedingten Schließung.

Heizung, Lüftung und gesamte Elektrik sind neu

Nachdem bei den seit 2016 »verpflichtenden wiederkehrenden Prüfungen wesentliche Mängel festgestellt wurden, insbesondere an der elektrischen Anlage«, war die Betriebssicherheit nicht mehr gegeben, erklärt Marcus Müller vom Technischen Gebäudemanagement der Stadt Reutlingen. Die Mängel durch Reparaturen zu beheben, war nicht möglich. »Es drohte eine Untersagung des Weiterbetriebs.« Als Vermieterin einer Versammlungsstätte stehe die Stadt da in der Verantwortung. Die lasse sich nicht auf die Mieter übertragen. Aufgrund des Alters und Gesamtzustands der Anlagen entschied man sich für eine Neuinstallation. Dabei wurden auch gleich die Lüftungsanlage und Heizung erneuert. Letztere stammte Zelle-Sprecher Jochen Dachs zufolge noch aus der alten Wandel-Fabrikhalle - mit entsprechend hohem Energieverbrauch.

Bereits Mitte Oktober 2023 hatten die »Zelle«-Macher also fast die komplette Einrichtung rausgeräumt und in einem Container zwischengelagert. Damals gingen sie von einer sechsmonatigen Schließung aus. Doch der Umbau verzögerte sich. Nachdem das erste Vergabeverfahren ohne Ergebnis geblieben war, musste das Gewerk Heizung ein zweites Mal ausgeschrieben werden. »Dadurch hat sich der gesamte Terminablauf verschoben. In der Folge gab es auch bei Planung, Freigabe und insbesondere bei den Lieferzeiten der neuen Elektroverteiler unerwartete Verzögerungen«, teilt Müller mit. Erst im Januar 2024 begann Dachs zufolge die Demontage. Und statt sechs war nun fast zwölf Monate zu.

Einnahmeausfälle und Eigenleistungen

Aus dieser Zeit haben die »Zellis« das Beste gemacht: Eigenleistungen erbracht, um die Kosten niedrig zu halten, und mit ein paar fachkundigen Ehemaligen den Außenbereich aufgepeppt. So wurde der Weg zur Echaz hin geschottert und barrierefrei gepflastert, an der Rückseite unter der neuen Filteranlage eine Terrasse mit Außentheke gebaut, davor zum Holzpavillon hin eine Trockenmauer und eine gemauerte Grillstelle angelegt.

Dennoch bedeutet ein Jahr Schließung für den Verein, der keine Mitgliedsbeiträge verlangt, um wirklich allen offenzustehen, Flaute in der Kasse. Die angesparten Reserven sind weg. Denn Nebenkosten fielen trotzdem an. Und zuletzt mussten die »Zellis« drei Eröffnungsfeiern absagen, da etwa der Verteilerschrank noch nicht da war oder das Lichtsteuerungstableau fehlte. Da fielen Künstlerhonorare an, ohne dafür den ohnehin stets günstig gehaltenen Eintritt einzunehmen. »Das vergangene Jahr war mit viel Höhen und Tiefen verbunden«, resümiert Jochen Dachs. Alles in allem sind er und die gleichberechtigten Vertreter im Plenum des selbstverwalteten Zentrums froh: »Jetzt geht alles. Die Leute haben ihr Geschäft gemacht, und das Ergebnis stimmt«, sagt der 26-jährige gelernte Gärtner und Pädagoge.

Anzeige wegen rassistischer Schmierereien

Die Zusammenarbeit mit Marcus Müller vom Gebäudemanagement der Stadt habe gut funktioniert, lobt der Vizevorsitzende des »Zelle«-Vereins. Auch mit den meisten Handwerkern hätten sie sich »super verstanden«. »Die bekamen zum Teil tatsächlich einen Kulturschock«, erzählt er schmunzelnd. Einer habe gleich Kollegen angerufen und gesagt, »das musst du dir mal anschauen, hier sieht es aus wie in einem Anarchistenfilm aus den 60ern«.

Doch auch ein paar schwarze Schafe kamen durch den Umbau in die »Zelle«. Deren Betreiber nennen sich »politisch unabhängig«, beziehen aber klar gegen sexistische und faschistische Strukturen sowie für »einen positiven Umgang mit Differenz und Vielfältigkeit« Position, was in ihrem Domizil in Tags, Graffiti und politischen Wandbildern manifestiert wird. Dazwischen fanden sich nun plötzlich Hakenkreuze, Orchon-Runen und Slogans der rechtsextremistischen »Grauen Wölfe« sowie drei Halbmonde, das Logo der laut Verfassungsschutz »extrem nationalistischen türkischen Partei« MHP. Die Stadt als Inhaberin des Gebäudes habe deshalb nun Anzeige gegen unbekannt erstattet, berichten die »Zelle«-Aktiven.

Diese Lüftungsrohre oberhalb des Zuschauerraums wurden im Innern der Zelle neu installiert.
Diese Lüftungsrohre oberhalb des Zuschauerraums wurden im Innern der Zelle neu installiert. Foto: Frank Pieth
Diese Lüftungsrohre oberhalb des Zuschauerraums wurden im Innern der Zelle neu installiert.
Foto: Frank Pieth

Nachdem seit Corona abgesehen von Konzerten das Bildungsprogramm »leider a bissle eingeschlafen ist«, wie Dachs sagt, freuen sich die etwa 15 Aktiven umso mehr, in dem technisch aufgemöbelten selbstverwalteten Jugendzentrum jetzt wieder Theater, Lesungen, Filmabende, Raum für die Arbeitskreise »zu relevanten sozialen, ökologischen oder politischen Themen« von Heranwachsenden und jungen Erwachsenen zu bieten. Und vielleicht sogar den Zelle-Chor wiederzubeleben?

Halloween-Party

Einlass für alle über 18 Jahre zum Zwölf-Stunden-Goa-Rave »Nostromo« auf zwei Ebenen mit zehn Live-DJs in der »Zelle«, Albstraße 78, am Donnerstag, 31. Oktober, ist ab 21 Uhr. Karten im Vorverkauf über die Website oder im Hanfhaus kosten 15 Euro, an der Abendkasse für Verkleidete 15, für alle anderen 20 Euro. (dia)
www.kulturschock-zelle.de

Aber erst steigt die Halloween-Party »Nostromo«. So heißt der interstellare Transporter, in dem Ripley als einzige menschliche Überlebende im Film dem Alien begegnet. Am 31. Oktober wird die »Zelle« deshalb zum gigantischen Raumschiff, auf dem Pioniere elektronischer Musik die Gäste in fremdartige Klangsphären entführen. Die hören sich unter anderem dank rund 250 neu verlegter Kabel unter der Bühne jetzt wieder richtig gut an. (GEA)