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Aktuell Umweltbildung

Reutlinger Zehntklässler: Klima besser verstehen über Gefühle

Wälder brennen, Gletscher und Pole schmelzen, Berge zerbröseln und Flüsse werden zu reißenden Fluten – weil sich das Klima aufheizt. Was die Politik dagegen tun müsste, das lernen Reutlinger Schüler in einem preisgekrönten Simulationsspiel.

Bei einem Protest beim UN-Klimagipfel COP27 im November 2022 im ägyptischen Scharm El Scheich trägt ein Teilnehmer ein Plakat, d
Bei einem Protest beim UN-Klimagipfel COP27 im November 2022 im ägyptischen Scharm El Scheich trägt ein Teilnehmer ein Plakat, das den Klima-Kollaps der Welt darstellt. In Reutlingen haben Schüler in einer fiktiven Klima-Konferenz politische Möglichkeiten, der Klima-Krise zu begegnen, durchgespielt. Foto: Christophe Gateau/dpa
Bei einem Protest beim UN-Klimagipfel COP27 im November 2022 im ägyptischen Scharm El Scheich trägt ein Teilnehmer ein Plakat, das den Klima-Kollaps der Welt darstellt. In Reutlingen haben Schüler in einer fiktiven Klima-Konferenz politische Möglichkeiten, der Klima-Krise zu begegnen, durchgespielt.
Foto: Christophe Gateau/dpa

REUTLINGEN. Traurig, hoffnungsvoll, ängstlich oder wütend? Am Ende eines langen Vormittags weist Professor Dr. Florian Kapmeier jeder Ecke der Schulaula im Reutlinger Isolde-Kurz-Gymnasium (IKG) ein Gefühl zu. Von vorne links im Uhrzeigersinn. Je nach Gefühlslage sollen sich die Schüler im Raum verteilen. In der vorderen Mitte tummeln sich schließlich die meisten der 66 Zehntklässler, etliche stehen im Bereich »wütend«, ein paar bei »traurig«. Was hat der 51-Jährige von der ESB Business School der Hochschule Reutlingen mit ihnen gemacht? Womit flößte er Hoffnung, Trauer, Wut, Angst ein? Mit Fakten zum Weltklima. Und Möglichkeiten, den drohenden Klimakollaps zu verhindern.

Professor Dr. Florian Kapmeier von der ESB Business School der Hochschule Reutlingen stellt die Climate Action Simulation  am IK
Professor Dr. Florian Kapmeier von der ESB Business School der Hochschule Reutlingen stellt die Climate Action Simulation am IKG vor. Foto: dia
Professor Dr. Florian Kapmeier von der ESB Business School der Hochschule Reutlingen stellt die Climate Action Simulation am IKG vor.
Foto: dia

Die Schülerinnen und Schüler hatten sich von 8 bis 13 Uhr mit ihren Geografie-Lehrern und dem Strategie-Professor auf die interaktive »Climate Action Simulation« eingelassen. Ausgehend von Zahlen aus der Klimawissenschaft macht das Computerprogramm En-Roads über ein Rollenspiel erfahrbar, welche Lösungen wie schnell den weltweiten CO2-Ausstoß senken. Entwickelt wurde das von der renommierten US-Hochschule MIT und deren Ausgründung Climate Interactive für Verhandler bei UN-Klimakonferenzen. Denn: »Forschung zeigt, dass das Zeigen von Forschung nicht zu einer Verhaltens- oder Politikänderung führt«, erklärt Kapmeier. Indem Menschen durch die Simulation das direkt erfahren, hingegen schon.

Er stellt deshalb so eine Konferenz nach. Für vier Stunden ist er UN-Generalsekretär António Guterres. Die Schüler sind in internationale Lobbygruppen eingeteilt. Und zwar, erklärt Geografie-Lehrer Ruben Bühner, entgegen ihren Vorlieben. Dazu waren sie zuvor befragt worden. Kohlebefürworter fühlen sich nun in Vertreter eines absaufenden Entwicklungslands ein, der Windrad-Aficionado in den Ölmagnaten.

Haris Safaridis (15) fühlt sich bei »Climate Action« bis hin zur Warnweste in seine Simulations-Rolle als Klimaaktivist hinein.
Haris Safaridis (15) fühlt sich bei »Climate Action« bis hin zur Warnweste in seine Simulations-Rolle als Klimaaktivist hinein. Foto: dia
Haris Safaridis (15) fühlt sich bei »Climate Action« bis hin zur Warnweste in seine Simulations-Rolle als Klimaaktivist hinein.
Foto: dia

Anni, Haris und Co. erfahren dabei die Ungerechtigkeit der Welt am eigenen Leib: Vorfreudig zum Tisch ihrer Delegation geströmt, sehen sie, »das Frühstück ist viel magerer als nebenan«. Dem halben Dutzend »Kimaaktivisten« steht ein Apfel zur Verfügung. Hüseyin als Vertreter der »Land- und Forstwirtschaft« sitzt wie die »Industrienationen« und »Konventionelle Energien« an reich gedeckter Tafel – mit Tischdecke, Brezeln und Vanilleplunder. Bei echten Weltklimakonferenzen werden zwar alle Teilnehmer gleich versorgt, erklärt Kapmeier, aber die Umstände, unter denen sie dort zu Gast sind, entsprechen durchaus dem sozialen Gefälle in der IKG-Aula. Protest wird laut, als Aktivisten und Entwicklungsländern auch noch Tisch und Stühle entzogen werden. Sie sitzen fortan auf dem Boden. Doch als die »Industrienationen« bei »Clean Tech« um Allianzen ringen, klauen sie denen kurzerhand die Sitzmöbel. Da sind alle mittendrin in dieser »Blaupause einer selbstgestalteten Zukunft«, hören nicht nur zu, sondern machen mit. Durchlebte Nöte prägen sich eher ein als reingepaukter Stoff. Darauf setzt dieses Modell.

Das Fachwissen vermittelten ihnen ihre Lehrer. Sieben von ihnen hatten sich dafür im April in Kapmeiers Vorlesung gesetzt. Für die Zehner sei das als Einstieg in die Oberstufe, wo das Thema im Lehrplan steht, ideal, meint Bühner. Klimaschutz und Klimawandel sollten heute öffentlich mehr thematisiert werden denn je, findet er. Nicht nur, wenn mal wieder was Schlimmes passiert, wie der Hagel 2023 in Reutlingen.

Die Delegation »Industrienationen« sitzt am reich gedeckten Tisch bei der »Climate Action Simulation« im IKG.
Die Delegation »Industrienationen« sitzt am reich gedeckten Tisch bei der »Climate Action Simulation« im IKG. Foto: dia
Die Delegation »Industrienationen« sitzt am reich gedeckten Tisch bei der »Climate Action Simulation« im IKG.
Foto: dia

Die 15- und 16-Jährigen legen die Positionen ihrer Gruppen dar, verhandeln, ringen um Zugeständnisse. Welches sind die Stellschrauben? Was hat welche Auswirkungen? CO2-Steuer einführen oder Gebäude-Energieeffizienz erhöhen, neue Technologien fördern oder Regenwald schützen? Wünschenswertes steht wie in der Realität gegen das Machbare. Immer wieder justiert Kapmeier als Konferenzleiter die Daten der Simulation auf der großen Leinwand nach – und am Ende fällt die Kurve tatsächlich auf eine Klimaerwärmung von nur 1,9 Grad Celsius bis zum Jahr 2100. »Das war ein intensiver Ritt«, lobt er. Mit kreativen Einfällen. »Sie haben es geschafft!« Allen auf dem Planeten gehe es dadurch besser. Denn das Klima betrifft Gesundheit, Biodiversität, Tierwohl und vieles mehr.

Reaktionen und Vorsätze

Warum steht dann Hüseyin trotzdem im »Wütend«-Eck? »Weil wir gesehen haben, wie leicht wir es hier hinbekommen. Aber in der Politik schaffen sie es nicht«, sagt der 16-Jährige. Haris kann sich nicht vorstellen, dass zum Beispiel ein Regierungschef von China tatsächlich sagt, »CO2-Steuer rauf und Kohlekraftwerke runter«. Deshalb ist der 15-Jährige alles, nur nicht hoffnungsvoll. Es müssten alle Menschen der Welt an einem Strang ziehen, resümiert ein Schüler. Die Geschichte aber zeige: »Die Menschen arbeiten meist gegeneinander.« Anni gehört zur größten Gruppe: den Hoffnungsvollen - mit Tendenz zu »traurig«. Die Simulation sei realitätsnah, aber die Wahrscheinlichkeit, dass Leute und Nationen auf ihren eigenen Vorteil verzichten, gering. »Es ginge, aber es passiert nicht«, meint die 16-Jährige.

Anni Lukaszewitz (16) fand die Idee, die Problematik als Rollenspiel mit Diskussionsrunden durchzuführen, informativ und spaßig.
Anni Lukaszewitz (16) fand die Idee, die Problematik als Rollenspiel mit Diskussionsrunden durchzuführen, informativ und spaßig. Foto: dia
Anni Lukaszewitz (16) fand die Idee, die Problematik als Rollenspiel mit Diskussionsrunden durchzuführen, informativ und spaßig.
Foto: dia

Die bisherigen Lippenbekenntnisse reichen nicht aus, stimmt Kapmeier zu. Dabei sei das Problem dringlicher denn je. »Die Zeit wird knapp.« Doch die Simulation wirke bei den weltweit 250.000 Politikern, Beamten und anderen Entscheidern, die sie schon durchliefen, ist er überzeugt. Eine Studie des Vorgängers »World Climate« ergab, dass 80 Prozent danach motivierter waren, sich zu engagieren. »Dieses Szenario zeigt uns, dass wir zusammenarbeiten müssen.« Als eine IKG-Schülerin darauf, was sie nun persönlich anders machen will, sagt »Wahlverhalten überdenken«, hat er sein Ziel erreicht. Lernen durch Einbeziehen und Fühlen, das verankert sich. Langfristig.

Hüseyin Degirmenci (16) hat durch das interaktive Rollenspiel neue Weltansichten entdeckt.
Hüseyin Degirmenci (16) hat durch das interaktive Rollenspiel neue Weltansichten entdeckt. Foto: dia
Hüseyin Degirmenci (16) hat durch das interaktive Rollenspiel neue Weltansichten entdeckt.
Foto: dia

Informativ und hilfreich war das, findet Hüseyin. Und es hat Spaß gemacht. Trotz einiger unrealistischer Faktoren wie »dass man nicht auf ein Budget achten musste«, half ihm der Vormittag, »neue Weltansichten zu entdecken«. Auch Anni kann sich dadurch, dass Diagramme die Informationen veranschaulichten, jetzt vieles besser vorstellen. (GEA)