REUTLINGEN. Es war ein Kampagnenauftakt wie ein Knall. Als in Reutlingen im Juni plötzlich Plakate mit Schmähbotschaften auftauchten, fragten sich nicht nur die Einwohner der Stadt: Was um Himmels Willen hat es denn damit auf sich? Dass der Reutlinger das Licht seiner Stadt gerne mal unter den Scheffel stellt, ist bekannt. Aber sie per Plakat schlecht machen - echt jetzt? Schnell wurde dann klar: Eine städtische Werbekampagne steckt dahinter, »Nur lieben« wurde zum neuen Slogan, die Negativbotschaften wurden in positive umgekehrt. Ein Gespräch mit Stadtmarketing-Chefin Anna Bierig über die Kampagne und ihre langfristigen Ziele, Reaktionen und den bisherigen Erfolg.
Seit Start der Kampagne sind nun 3,5 Monate vergangen. Wie ist die erste Bilanz?
Wir sind sehr zufrieden! Auf der einen Seite erreichen uns Anfragen und Feedback von Unternehmen und Bürgern. Zum anderen haben wir eine Medienauswertung gemacht und Zahlen erhoben zur Kampagne in den ersten drei Wochen. Das war aus unserer Sicht ein großer Erfolg, denn wir haben 200 Millionen Kontakte erreicht - was ein irrer Wert ist.
Was bedeutet das konkret?
Im Idealfall liest der Bürger Zeitung, er hört Radio. Er kann also mehrere Kontakte mit unserer Kampagne gehabt haben. Aus dieser Zahl der Medienkontakte kann man dann auch einen sogenannten Mediaäquivalenzwert errechnen. Man kann also schauen: Was hätte es gekostet, wenn wir in dieser Größe, in der die Berichte gekommen sind, eine Anzeige geschaltet hätten. Und das waren in unserem Fall 4,5 Millionen Euro, ohne Social Media. Also schwäbisch gesagt, haben wir einen Werbeeffekt erreicht, der uns sonst 4,5 Millionen Euro gekostet hätte.
Wie viel hat Sie die gesamte Kampagne gekostet?
Wir hatten – zusätzlich zu unserem Budget beim Stadtmarketing - Mediakosten in Höhe von 26.000 Euro.
Das waren jetzt die harten Fakten. Nun zu den weichen Faktoren, also den Rückmeldungen, die sie bekommen haben…
Also zu allererst haben wir sehr viele begeisterte Rückmeldungen von Menschen bekommen, auch aus ganz Deutschland. Einen Anruf von einem Mann aus Köln beispielsweise. Eine Reutlingerin hat sogar Bilder von den Plakaten nach Schweden geschickt. Dann gab es zudem auch viel Rückmeldung von Unternehmen. Ein großes Wirtschaftsunternehmen hat sich beispielsweise gemeldet. Die waren so begeistert von der Kampagne, dass sie nun alle Motive von uns bekommen haben. Die sind sozusagen aufgesprungen und hängen das bei sich im Unternehmen auf. Und wir haben ein weiteres Unternehmen, das in ganz Baden-Württemberg im Bereich Einzelhandel unterwegs ist. Diese Firma wird das Motiv unserer Kampagne nun auf ihre Gutscheine drucken. Außerdem wurde uns berichtet, dass Reutlinger Unternehmer auf Messen angesprochen wurden, so nach dem Motto: »Reutlingen, da hab ich was gelesen, was ist denn da bei euch los?« So kommt man natürlich ganz anders über den Standort ins Gespräch. Auch in Schulen war die Kampagne beispielsweise Top-Thema.
Aber was bringt es einem Unternehmen, wenn alle amüsiert über seinen Standort reden?
Eines der Ziele von Phase eins war, ins Bewusstsein zu rücken, dass es Reutlingen gibt, es auf einer Landkarte erscheinen zu lassen. Ich kann im Moment nur von unseren eigenen Ausschreibungen berichten. Da haben sich sehr viele Bewerber in ihrem Anschreiben auf das Thema bezogen. Und da wird es für die Unternehmen auch in Zukunft Angebote geben, wie sie das noch stärker nutzen können.
Sie haben immer wieder von den Website-Besuchen und Views gesprochen. Das mag für Influencer, deren Haupteinnahmequelle Social Media ist, eine Kennzahl sein. Aber Sie sind als Stadt ja kein Influencer…
Das stimmt. Aber wie erwähnt, in dieser Phase ging es darum, ein Stadtgespräch zu entfachen. Deswegen hingen die Plakate auch nur in Reutlingen. Die Bürger sollten ins Gespräch kommen über ihre Stadt. Den Blick auch mal darauf richten, was sie eigentlich an ihrer Stadt haben, was sie daran lieben, warum sie hier sind, warum sie zurückgekehrt sind. Es geht darum, das Zusammengehörigkeitsgefühl wieder zur stärken. Denn der Reutlinger stellt das Licht seiner eigenen Stadt ja eher unter den Scheffel. Und je mehr Menschen die Kampagne und die Inhalte sehen – je mehr Views wir also haben – desto breiter wird das Stadtgespräch gestreut.
Es sind jetzt beispielsweise Geschichten auf dem Instagram-Kanal mit dem Titel »Mein Kuch-lingen«. Reutlingen ist toll, weil es hier besonders guten Kuchen gibt. Ist das nicht ein bisschen banal? Guten Kuchen gibt es ja auch in Tübingen…
Schlussendlich sind das die Geschichten der Reutlingerinnen und Reutlinger. Und es kann ja durchaus sein, dass einer sagt: Mein Highlight ist der Kuchen. Das soll nicht aufgestülpt sein, sondern authentisch. Wir wollen die Geschichten von den Bürgern hier erzählen, um vielleicht auch mal einen Anhaltspunkt zu geben: Was gibt’s hier eigentlich in dieser Stadt, was ist besonders? Was gibt es da zu entdecken? Reutlingen ist ja in gewisser Weise auch Liebe auf den zweiten Blick. Viele Touristen sind wahnsinnig positiv überrascht von Reutlingen, das kriegen wir ja in der Tourist-Info mit.
So nett diese Geschichten ja sind – aber sind die nicht irgendwann auserzählt?
Das soll jetzt so auch nicht das ganze nächste Jahr weiterlaufen. Es soll im nächsten Jahr zu den unterschiedlichen Themenfeldern beispielsweise weitere Aktionen geben.
Nun haben wir über die kurzfristigen Auswirkungen gesprochen. Was ist das mittelfristige Ziel der Kampagne?
Das Kommunikationskonzept sieht in circa zwei Jahren dann den Start von Phase zwei vor. Dann sollen auch überregional die Stärken Reutlingens kommuniziert werden.
Ist das nicht ein wenig spät in zwei Jahren? Erinnert sich dann überhaupt noch jemand an »Nur lieben«?
Es heißt ja nicht, dass wir auf die Kampagne aufsetzen… Wir wollen Bilder in den Kopf der Menschen projizieren. Zu München habe ich Bilder im Kopf zu Berlin oder Hamburg. Und Reutlingen soll in Zukunft auch Bilder erzeugen. Da geht es dann drum, der Stadt ein Gesicht zu geben. Die Leute sollen neugierig werden und sagen: »Reutlingen, da fahr ich mal hin!« Das gab es in diesem Sommer, nach dem Kampagnenstart schon. Es geht aber nicht nur darum, Besucher nach Reutlingen zu holen. Auch das Thema Fachkräfte ist ein wichtiges Thema. Wir wollen zeigen, Reutlingen steht für eine starke Wirtschaft, wir haben eine Hochschule, man kann hier gut leben und hat eine sehr gute Freizeit- und Lebensqualität.
Metzingen hat das Outlet, Tübingen die schöne Innenstadt, Hamburg die Reeperbahn. Aber wir haben ja jetzt nichts so richtig Großes, mit dem wir in der Kampagne werben, sondern viele kleine Dinge. Ist das ein Nachteil?
Jein. Große Dinge sind Fluch und Segen zugleich. Wenn der Unique Selling Point, also das Alleinstellungsmerkmal, weg ist oder sich negativ verändert, aus welchen Gründen auch immer, fehlt der Stadt ein großer Teil der Identität. Ich glaube nicht, dass es für uns von Nachteil ist, wir haben in Reutlingen eine größere Vielfalt und zugleich eine hohe Qualität innerhalb unserer Stärken.
Wird es eine Phase drei geben?
Ja, die steht auch auf dem Papier. Da geht es dann um internationale Quellmärkte, da sind wir sehr stark im wirtschaftlichen und touristischen Bereich.
Wie viele Reutlinger haben nun ihre Liebesbekenntnisse eingereicht?
Wir haben mittlerweile mehr als 400 auf unserer Website. Und wir werden auch in Zukunft draußen stärker unterwegs sein und Geschichten sammeln.
Auf Instagram sind die Interaktionen unter den Beiträgen jetzt nicht enorm hoch. Sind Sie damit trotzdem zufrieden?
So eine Kampagne muss auch erstmal in einen normalen Alltag übersetzt werden. Wir haben das von der Agentur übernommen, aber halt kein fünfköpfiges Team dazugewonnen. Heißt: Das muss alles erstmal in eine Arbeitsstrategie gebracht werden. Wir steigern uns, was die Followerzahlen angeht ganz gut. Bei den Interaktionen – da bin ich bei Ihnen – ist noch Luft nach oben. Aber das wird jetzt losgehen.
Boris Palmer hat ja zu Beginn ein Bild vor einem Schmähplakat gepostet, dann ist die Kampagne erst so richtig viral gegangen. Haben Sie ihn dazu überredet?
Schon vor Palmers Posting waren die Parameter erkennbar dafür, dass die Kampagne viral geht. Aber ja, er hat uns damit auch nochmal unterstützt. Wir haben schon vorher gewitzelt, ob er das auch ein Stück weit für sich nutzen wird. Und er hat es getan. (GEA)