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Reutlinger Selbsthilfegruppe: Liebes-Last zu Autisten

Wie jemanden auf Dauer lieben, der sich ungern berühren lässt? Frauen, die mit einem autistischen Mann zusammenleben, tauschen sich in einer Reutlinger Selbsthilfegruppe aus.

Ich liebe Dich, möchte Dich aber nicht berühren. Für Frauen sind Beziehungen mit einem autistischen Mann schwierig. Wie auf dies
Ich liebe Dich, möchte Dich aber nicht berühren. Für Frauen sind Beziehungen mit einem autistischen Mann schwierig. Wie auf dieser gestellten Szene stehen seine Einschränkungen zwischen ihr und ihm. Foto: Stephan Zenke
Ich liebe Dich, möchte Dich aber nicht berühren. Für Frauen sind Beziehungen mit einem autistischen Mann schwierig. Wie auf dieser gestellten Szene stehen seine Einschränkungen zwischen ihr und ihm.
Foto: Stephan Zenke

REUTLINGEN. Wie jemanden auf Dauer lieben, der sich ungern berühren lässt? Das ist eine Herausforderung für Frauen, die Männer aus dem Autismus-Spektrum begehren. In einer deutschlandweit wohl einzigartigen ausschließlich weiblichen Selbsthilfegruppe treffen sich Betroffene in Reutlingen. Sie lernen Autismus zu verstehen, wollen ihre Beziehungen retten. Zu hören, wie solche Partnerschaft begonnen haben, wirkt widersprüchlich.

Denn Kennen- und Liebenlernen laufen oft ganz unauffällig eben so, wie das üblicherweise läuft. Sie und er reden sich vergnügt aneinander heran. Aus gegenseitigen Verständnis und Vergnügen erwachsen echte Zuneigung und Begehren. Das Paar kommt sich auch körperlich näher. Frau F., deren richtiger Name der Redaktion bekannt ist, hat es als Ehefrau eines autistischen Mannes vor langer Zeit so erlebt. Es ist auch das, was viele der Teilnehmerinnen der Selbsthilfegruppe berichten, die Frau F. seit vielen Jahren leitet. »Die Frauen beschreiben ganz oft, wie toll sie sich zu Beginn unterhalten konnten«. Ihr Geliebter ist aufmerksam und fürsorglich, »und auch die Sexualität funktioniert am Anfang ganz normal«. Ein Autist, der keiner ist?

Autismus verstehen

Unzureichende Diagnose-, Förder- und Unterstützungsangebote für Menschen im Autismus-Spektrum und für ihre Angehörigen waren Anlass zur Gründung des Vereins »Autismus verstehen« in der Region Reutlingen. Denn es fehle an Informationen über die Vielfalt an autistischen Erscheinungsformen. Es gebe immer noch zu wenig Ärzte, die diese Diagnosen erkennen, zu viele Fehldiagnosen, und nach Diagnosen zu wenig geeignete Maßnahmen. Die Selbsthilfegruppe für Frauen, die mit einem autistischen Mann zusammenleben, ist Teil des Vereins. (pr) www.autismus-verstehen.de

Leider nein, sagt F., »autistische Männer können sich gut maskieren«. Was damit gemeint ist, erklärt die Organisatorin der Selbsthilfegruppe mit ihrer Definition von Autismus. »Es ist eine andere Form des Denkens und der Wahrnehmung. Dabei ist jeder Autist verschieden. Ihr Verhalten zu begreifen ist für jemanden, der sich nicht auskennt, schwierig«, beginnt sie komplexe Einschränkungen auf der einen Seite, aber auch besondere Eigenschaften auf der anderen Seite zu beschreiben. Viele Autisten vermeiden körperlichen Kontakt, »der ist für sie unangenehm«. Andere suchten räumliche Distanz, würden Menschenmengen vermeiden. Autisten müssten soziales Verhalten mehr als sogenannte Normale erlernen. Das täten sie auch bis hin zur perfekten Fassade, die oft zu Beginn einer Liebesbeziehung aufrechterhalten wird.

»Autistische Männer können sich gut maskieren«

»Autisten möchten gerne Kontakt zu anderen Menschen – aber es fällt ihnen schwer«, sagt die Mutter von zwei Kindern aus eigener Erfahrung. Weil diese besonderen Männer »oft das Ganze nicht übersehen, aber Details«, verhalten sie sich merkwürdig. »Funktionieren im Haushalt ist schwierig«, erklärt Frau F. vor dem Küchenschrank neben dem Aufenthaltsraum der Selbsthilfegruppe. Dort sind die Plätze für Tassen oder Teller mit kleinen Schildern markiert, damit autistische Menschen klipp und klar wissen, wohin sie etwas stellen sollen. Neben der Ausgangstüre hängt eine Art Checkliste für das Verlassen der Räume. Oft ist es eigentlich simpel, aber schwer zu verstehen.

Wenn etwas übersehen oder unterlassen wird, seien es Formen von Empathie oder Erotik oder Einsatz, so laute die Erklärung: Autisten könn(t)en das, aber sie wissen nicht wie. Dafür hätten sie jede Menge gute Eigenschaften. Jenseits besonderer Fähigkeiten im Bereich von Zahlen oder Computern handelt es sich laut Frau F. um Partner, denen ihre Frauen vertrauen könnten. »Autistische Männer sind sehr treue Menschen, wenn sie etwas gefunden haben, das funktioniert«. Was die Beziehungen zu ihnen so herausfordernd macht, ist die Distanz zwischen dem so kommunikativen und zärtlichen Liebhaber zu Beginn sowie seiner scheinbaren Verwandlung im Laufe der Zeit.

»Frauen sind verheiratet, fühlen sich aber emotional alleine«

Die Maske zu Anfang einer Beziehung ist für den Mann anstrengend. "Der Autist überwindet sich selbst, aber er kann das nicht auf Dauer", sagt die Leiterin der Selbsthilfegruppe, "Knackpunkt ist der Moment, in dem sich der Mann gewiss ist, dass er die Frau sicher hat". Meistens dann, wenn Kinder zur Welt gekommen sowie die Ehe geschlossen ist. »Frauen sind verheiratet, fühlen sich aber emotional alleine«, beschreibt die Gruppenleiterin das Dilemma. Liest sich berechnend, egoistisch, eiskalt – doch dies alles stimme nicht. Dabei lasse sich der geliebte Mensch nur fallen ist, wie er ist, brauche keine Maske mehr. Jedoch bleibt dann oft auf der Strecke, was seine Frau gerne von ihm haben möchte. Eigentlich ist das eine ziemlich übliche Entwicklung vieler langjähriger Verbindungen. Was tun?

Manche Autisten brauchen Ordnung und klare Ansagen –  auch in der Küche. Wo was steht, verraten deswegen Aufkleber im Schrank de
Manche Autisten brauchen Ordnung und klare Ansagen – auch in der Küche. Wo was steht, verraten deswegen Aufkleber im Schrank der Räume der Selbsthilfegruppe. Foto: Stephan Zenke
Manche Autisten brauchen Ordnung und klare Ansagen – auch in der Küche. Wo was steht, verraten deswegen Aufkleber im Schrank der Räume der Selbsthilfegruppe.
Foto: Stephan Zenke

Darüber in der Selbsthilfegruppe für Frauen, die mit einem autistischen Mann zusammenleben, zu reden. Ganz offen und schonungslos meint Frau F. Zu Beginn der Gespräche werde teils kein gutes Haar mehr am Gatten gelassen, was die Frauen erschrecke. Anschließend beginne ein Prozess des Lernen: was geht mit meinem Ehepartner, was eben nicht, und wie kann ich als Partnerin dennoch mit ihm und für mich glücklich werden? Manche Verbindungen zerbrechen, sagt F., »aber die wenigstens trennen sich. Sie lieben alle ihren Mann«. (GEA)

www.autismus-verstehen.de