REUTLINGEN. Der Mann, der sich an den Tisch setzt, trägt ein dunkles Oberteil. Mehr ist von ihm nicht zu erkennen. Keine Frisur, keine Kleidung, keine Gesichtszüge, nichts. Das Bild von ihm, das auf die überdimensionalen Bildschirme an den Wänden von Saal 1 im Oberlandesgericht geworfen wird, ist gewollt extrem unscharf. »Sie sind Herr Nummer 2, darf ich Sie so ansprechen?« Der Vorsitzende Richter Joachim Holzhausen begrüßt den Mann, dieser bejaht die Frage. Er ist Beamter beim Spezialeinsatzkommando (SEK) des Landes Baden-Württemberg und soll an diesem Montag im Reichsbürger-Prozess aussagen.
Nummer 2 - so die ihm offiziell zugewiesene Kennziffer - leitete am Morgen des 22. März 2023 den Einsatz des SEK in der Peter-Rosegger-Straße in Reutlingen. Der Einsatz, der später bundesweit durch die Medien ging. Weil Sportschütze Markus L., der mutmaßlich zur Reichsbürger-Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß gehörte und bei dem durchsucht werden sollte, auf die Beamten schoss. Und einen von Nummer 2's Männern dabei schwer verletzte.
Die Identitäten der SEK-Beamten müssen geheim gehalten werden. Zu groß ist das »Risiko ihrer Enttarnung«, schreibt das Innenministerium im Voraus ans Gericht. Wenn sie vor Ort, im Gerichtssaal aussagen müssten, bestünde »Gefahr für Leib und Leben«, es könne nicht ausgeschlossen werden, »dass es Racheakte aus der Szene gibt«, heißt es weiter. Und so sitzt Nummer 2 an einem geheimen Ort und wird per Video ins Gericht geschaltet.
»Ich hatte keinerlei Hinweise, ob sich jemand in der Wohnung befindet«
Mehrere Videos belegen das dramatische Geschehen an dem Einsatzmorgen eindrücklich. Sie wurden über Körperkameras der SEK-Männer und im Haus eingesetzte Drohnen aufgezeichnet. 6.04 Uhr: Der Flur wird erhellt, die Wohnungstüre von Markus L. im Obergeschoss wird aufgesprengt. SEK-Mann Nummer 6 - der, der später angeschossen wird - ruft mehrfach: "Polizei!" Das rote Auto, das Markus L. gehört, stand an diesem Morgen nicht in der Einfahrt, berichtet der SEK-Einsatzleiter. "Die Rollläden der Wohnung waren geschlossen." Nur ein paar Schlitze waren offen, durch die drang aber kein Licht nach außen. »Ich hatte keinerlei Hinweise, ob sich jemand in der Wohnung befindet«, so der Einsatzleiter.
L. war eigentlich nur Zeuge. Die Beamten waren auf ihn aufmerksam geworden, weil man eine Verschwiegenheitserklärung der »Reuß-Gruppe« mit seinem Namen gefunden hatte. Warum also dieses brachiale Vorgehen mit aufgesprengter Eingangstüre? Das wollte Richter Holzhausen vom Einsatzleiter wissen. »Sie hatten doch wenig Hinweise auf einen polizeilichen Hintergrund von L.« Auch die beiden Verteidiger des wegen versuchten Mordes angeklagten Reutlingers beäugen das Vorgehen des SEK kritisch. Der Einsatzleiter, die Nummer 2, antwortet ruhig und sachlich: »Der Hintergrund für die Sprengung waren taktische Aspekte.« Ihm sei bekannt gewesen, dass L. mehrere Waffen und eine sprengstoffrechtliche Erlaubnis besitzt. Und seine Erfahrung aus anderen Einsätzen habe ihn gelehrt, dass es zumindest die Möglichkeit gebe, »dass hinter einer Türe Fallen, Sprengvorrichtungen sind«.
»Markus leg die Waffe hin, lass den Scheiß!«
Erneute Nachfrage von Richter Holzhausen: Aber hätte man L. nicht observieren und außerhalb der Wohnung abgreifen können? Ja, das habe er in Erwägung gezogen, antwortet Nummer 2. »Ich habe auch seine Arbeitszeiten angefordert.« Aber das sei dann aus »einsatztaktischer Sicht« abgelehnt worden. Er habe die Vorgabe bekommen, »an diesem Tag zu dieser Zeit« den Einsatz durchzuführen. Also: Sprengung der Wohnungstüre.
6.06 Uhr: Nummer 6 und Nummer 11 betreten die Wohnung von L., die anderen SEK-Männer sind hinter ihnen im Treppenhaus. 6.07 Uhr: Nummer 6 öffnet die Wohnzimmertüre. In diesem Raum lauert L. auf einem Sofa auf die Beamten. Ihm ist zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass sich die Schlinge um die Reichsbürger-Gruppe zu zieht. Festnehmen lassen wollte er sich aber auf keinen Fall, so hieß es am ersten Prozesstag in der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft. SEK-Mann Nummer 10, der einige Schritte hinter den anderen steht, erkennt zuerst, dass L. eine Waffe in der Hand hält. Er ruft, so ist es auf den gesicherten Videos zu hören: »Markus leg die Waffe hin, lass den Scheiß!«
»Dort haben sie eine verängstigte Familie mit einem sehr kleinen Kind vorgefunden«
6.08 Uhr: SEK-Mann Nummer 11 gibt den ersten Schuss ab, weil er davon ausgeht, dass der Sportschütze gleich schießen will. Dann folgt "ein massiver Schusswechsel", so nimmt es der etwas weiter hinten stehende Einsatzleiter wahr. Nummer 6 wird am Arm getroffen, schwer verletzt und zieht sich zurück. Die anderen Polizisten rammen die Türe einer Nachbarwohnung auf und ziehen sich dorthin zurück. »Dort haben sie eine verängstigte Familie mit einem sehr kleinen Kind vorgefunden«, schildert der Einsatzleiter. SEK-Mann Nummer 10 habe dem kleinen Kind ein Knicklicht gegeben und versucht, alle zu beruhigen.
Auf den Videos ist zu hören, wie die Beamten L. minutenlang immer wieder auffordern, die Waffe fallen zu lassen und sich zu ergeben. Was er schließlich auch tut. Ebenfalls auf Video festgehalten: L., wie er mit erhobenen Händen im Türrahmen steht, und nach Aufforderung durch die SEK-Männer zuerst seine Ohrschützer und seine Schutzweste, dann seine restliche Kleidung auszieht. L. habe »sehr abgeklärt« gewirkt, schildert der Einsatzleiter. »Ein Stück weit gelangweilt, oder auch genervt. Nicht wütend, auch nicht aufgebracht.« Genau diesen Eindruck macht er auch an diesem Prozessmontag im Gericht. Er trägt ein olivgrünes Polo, lauscht den Vernehmungen fast teilnahmslos und verzieht keine Miene. Der Prozess wird am Mittwoch fortgesetzt, weitere SEK-Männer sollen aussagen. (GEA)