REUTLINGEN. Die Zentralmoschee Reutlingen will sich nicht verstecken. Man habe nichts zu verbergen, sagt der Vorsitzende des Moscheevereins, Dilaver Acar. Nicht vor der Zeitung. Nicht vor dem Verfassungsschutz. Entsprechend präsent hat sich die Zentralmoschee in Reutlingen niedergelassen. Das Gebäude liegt nicht in einer dunklen Seitenstraße. Das Haus steht mitten in Reutlingen. An der Gartenstraße 34 kommen täglich Radfahrer, Fußgänger, Busse vorbei. Rechts daneben hat die Piratenpartei ein Büro. Nebenan wird im Jazz Club freitagabends gejammt.
Wer an dem Gebäude vorbeigeht, würde dennoch keine Moschee vermuten. An den Fenstern kleben orientalische Muster als Sichtschutz. Zur Straße hin hängt ein Kasten mit Gemeinde-Infos. Sonst deutet nichts auf eine Moschee hin. Nichts deutet an, dass das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg (LfV) die Moschee schon lange beobachtet.
Im Keller hat der Verein einen Besprechungsraum eingerichtet. Dort sitzt jetzt Dilaver Acar und ist bereit, über die Verfassungsschutz-Sache zu sprechen: »Wir hätten das vergessen, wären Sie nicht gekommen.« Acar ist Vorstandsvorsitzender des »Deutsch-Türkisch und Internationaler Kultur- und Familienvereins Reutlingen«. Der Verein betreibt die Moschee. 150 Mitglieder hat er nach eigener Aussage. Zum Gespräch mit dem GEA setzen sich jetzt auch Ali Ilemin, religiöser Leiter der Moschee (Imam), und Vorstandsmitglied Akif Cantez dazu.
Mögliche Verbindung zur IGMG
Sie alle werden in den kommenden Stunden versuchen, sich und ihren Verein zu erklären: Dass sie gerne in Deutschland leben und niemandem schaden wollen. Dass sie ihre Religion ausüben, sich integrieren möchten – und weiter? Nichts.
Worum es vor allem im Gespräch geht, gehen muss, ist aber die Verbindung der Zentralmoschee zu dem Kölner Verein »Islamische Gemeinschaft MillÎ-Görüs«, kurz IGMG. Die IGMG ist neben DiTiB in Deutschland die größte islamische Organisation. Der Dachverband tritt als religiöser Dienstleister auf, der Moschee-Vereinen bei ihren Aufgaben hilft. Die IGMG ist aus der türkisch-islamistischen MillÎ-Görüs-Bewegung hervorgegangen. Sie ist es, die der Verfassungsschutz fürchtet. Wer mit ihr und in ihrem Geiste arbeitet, gerät ins Visier der Verfassungsschützer.
2020 hat das Landesamt für Verfassungsschutz der MillÎ-Görüs-Bewegung in seinem jährlichen Bericht ein ganzes Kapitel gewidmet. Die Aufgabe des LfV ist es, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu schützen. Das LfV arbeite als »Frühwarnsystem«, schreibt ein Sprecher dem GEA. Er informiert und sammelt Infos über verfassungsfeindliche Gruppen. Reichsbürger, Scientologen, Rechtsextremisten zählen dazu. Organisationen des »legalistischen Islamismus« ebenfalls.
Gemeint sind vom LfV damit Strömungen im Islam, deren Anhänger nach außen tolerant und dialogbereit auftreten, tatsächlich aber versuchen, den Staat auf legalem Weg nach ihren Regeln zu formen – nicht mit Gewalt, sondern von innen heraus. Die Verfassungsschützer rechnen die MillÎ-Görüs-Bewegung dazu. Sie vermuten, dass ihre Anhänger den Staat unterwandern und umkrempeln wollen. Dem GEA gegenüber wird das Amt deutlich: Es geht um einen Kampf der Systeme.
Für MillÎ-Görüs-Anhänger stünden sich zwei politische Gesellschaftsentwürfe entgegen: Die »Gerechte Ordnung« auf islamistischem Fundament (»hak«). Und das als »nichtig« erachtete System des Unrechts (»batil«) in der westlichen Welt, das sie abschaffen wollen. Es ist diese Gegenüberstellung, die das LfV für gefährlich hält. Deshalb die Beobachtung der MillÎ-Görüs-Bewegung und der IGMG. Deshalb die Beobachtung des IGMG-Regionalverbands Württemberg und der 60 Ortsvereine im Land. Und die Reutlinger Zentralmoschee? Die rechnet das LfV zu den Ortsvereinen dazu.
Moschee benannte sich 2020 um
Dilaver Acar hat dafür nur ein müdes Lächeln übrig. Der Vorsitzende des Reutlinger Vereins antwortet ernst, ruhig und mit durchdringendem Blick auf jede Frage. Bevor er spricht, wartet er einen Moment. Oft wechselt Acar dann ins Türkische, bespricht sich zuerst mit seinen Kollegen. Manchmal vergehen Minuten, bis eine Antwort auf Deutsch steht. Diese aber kommt sofort: »Wir haben damit nichts zu tun.« Die IGMG hat Probleme mit dem LfV. »Nicht wir.«
Die drei Männer können nicht verstehen, warum der Verfassungsschutz sie beobachtet. Früher habe ihre Moschee zur IGMG gehört, sagt Acar. Der Verein hieß damals IGMG Reutlingen. »2002 wurde er aber umbenannt, unabhängig.« Warum? Das wüssten sie nicht, sagen die Männer. Ein anderer Vorstand habe das damals beschlossen. »Seitdem gibt es jedenfalls keine Verbindung mehr mit der IGMG.«
Was der Verein unter »keine Verbindung« versteht, wird ab da einen Großteil des Gesprächs mit dem GEA einnehmen – denn schnell wird klar: Auch wenn die Moschee die IGMG nicht mehr im Namen trägt – als Dienstleister nimmt sie den Dachverband noch in Anspruch. Finanziell, organisatorisch und theologisch.
Akif Cantez ist Mitglied im Moscheevorstand und jetzt sichtlich bemüht, ein Gefühl von Transparenz herzustellen. Er lächelt viel, wenn er spricht. Er bittet um Verzeihung, wenn die Männer sich wieder einmal erst untereinander abstimmen. Cantez sagt, dass die Moschee manchmal Spenden der Mitglieder an gemeinnützige Abteilungen der IGMG weitergebe. Die für Muslime verpflichtende Almosenabgabe (Zakat) reiche man auch weiter. Finanzielle Abhängigkeiten gebe es nicht: »Die IGMG gibt uns kein Geld. Wir zahlen keine Beiträge.«
Bekenntnis zur Demokratie
Ebenso verhalte es sich bei der Organisation der Gemeinde. »Im bürokratischen Sinne sind wir nicht zusammen.« Im Alltag schon: »Die IGMG bietet Pilgerfahrten für Gläubige an. Darauf weisen wir unsere Mitglieder hin.« Die juristische Unterstützung der IGMG bei Rechtsfragen sei ebenfalls wichtig, sagt Acar. »Es gibt Koranwettbewerbe der IGMG, an denen unsere Koran-Schüler teilnehmen.« Ein Problem mit unterschiedlichen theologischen Ansichten zwischen Reutlinger Schülern und den Mitgliedern der IGMG dürfte es nicht geben. Der Reutlinger Verein unterrichtet seine Koran-Schüler mit Büchern, die die IGMG bereitstellt.
Wie fast alle deutschen Moscheen bietet auch die Zentralmoschee Kindern und Jugendlichen Koran-Unterricht an. Für Schüler bis 14 Jahre gibt es feste Unterrichtseinheiten. »Der Unterricht ist dabei fast gleich mit dem, was die IGMG vorgibt«, sagt Cantez. Während es früher nur türkische Unterrichtsbücher gab, werde jetzt jedoch auch auf Deutsch unterrichtet. Cantez bezeichnet die Bildungsarbeit des Vereins als »transparent.« Er verwendet Worte wie »gläsern«, »kristallklar«.
»Die Dinge, nach denen man uns fragt, sind immer dieselben«, sagt Acar. »Man fragt uns zu unserer Haltung zum Staat, ob wir Frauen unterdrücken und ob wir die Scharia gutheißen.« Was aber genau hält der Verein denn von Demokratie? Minutenlang diskutieren die Männer – schließlich übersetzt Cantez die Antwort: »Wir stehen zur Demokratie. Wir finden sie toll, weil wir ja hier auch unsere Religion, Sprache, Kultur ausleben dürfen. Wir meinen, dass die Demokratie aufrechterhalten bleiben soll.« Noch nie seien sie auf die Idee gekommen, den Staat umzustürzen. »Wir möchten uns integrieren.« Wenn jemand von ihnen sich in der Politik engagiere, »dann wollen wir gehört werden – aber nichts unterwandern.«
Beim Thema Frauen und Gleichberechtigung fängt der sonst so ernste Vorsitzende an zu kichern: »Wir unterdrücken keine Frauen. Die führen eigentlich uns an.« Akif Cantez sagt: »Wir zwingen niemanden zu etwas. Wenn ich meiner Frau sagen würde, sie solle das Kopftuch ablegen – sie würde sich scheiden lassen.«
Und doch bleibt die Frage nach dem »Warum?«. Warum schließt sich ein kleiner Moscheeverband aus Reutlingen der umstrittenen IGMG an? Warum die Nähe zur MillÎ-Görüs-Bewegung? Der Vorsitzende versucht zu erklären: »Als sich in Deutschland die ersten Moscheevereine gründeten, haben sich viele davon einem großen Dachverband angeschlossen, der DiTiB oder eben der IGMG.« Kleinere Moscheen seien nicht in der Lage gewesen, die nötigen Strukturen für ihre Arbeit selbst zu errichten. »Die Kleinen werden Mitglied bei Dachverbänden, weil die Sicherheit und Unterstützung versprechen.« Als die IGMG Probleme bekam, seien die Moscheevereine mit reingerutscht. »So wie unser Verein eben auch.«
Deradikalisierung von innen
Einer, der diese Erzählung einschätzen kann, ist Werner Schiffauer. Der Kulturwissenschaftler, Ethnologe und Publizist ist Vorstandsvorsitzender des Rats für Migration. Jahrzehnte beschäftigte sich der emeritierte Professor mit der MillÎ-Görüs-Bewegung. Sein Urteil fällt anders aus, als das der Verfassungsschützer. Schiffauer glaubt nicht, dass MillÎ-Görüs-Anhänger eine Bedrohung darstellen. Schiffauer glaubt, dass das LfV einen Fehler begeht.
Dem GEA gegenüber spricht der Kulturwissenschaftler von einer Deradikalisierung der Bewegung von innen heraus. Die heutige MillÎ-Görüs-Generation plane keinen Umsturz des Staates. »Sie haben dem Programm der älteren Anhänger eine Absage erteilt. Die Jüngeren wollen sich integrieren, ihre Religion ausleben.« Den Staat umstürzen wollten sie nicht.
Der Forscher spannt den großen Bogen zur Gastarbeiter-Bewegung in den 50er- und 60er-Jahren: »Die türkischen Gastarbeiter strandeten hier. Sie waren normorientiert, wollten ihre türkische Heimat aufrechterhalten.« Als in den 70ern klar wurde, dass die Rückkehr nicht mehr gelingt, hätten sich in den Ortschaften kleine Vereine gebildet. »Die Verbände brauchten Hilfe. MillÎ-Görüs bot sie an.«
In der Bewegung sei über die Jahre eine zweite Generation herangewachsen: »Sie übernahm die Führung. Die jungen Menschen hatten eine Perspektive in Deutschland.« Die Jugend habe versucht, das erzkonservative Programm der Eltern zu überwinden. »Die Jungen glaubten nicht mehr an den islamischen Staat – sie glaubten an ein islamisches Leben auf der Grundlage unseres Grundgesetzes.«
Folgt man Schiffauer, sitzt so seit der Jahrtausendwende in den IGMG-Gemeinden der apolitische Flügel fest im Sattel. »Der Verfassungsschutz in Baden-Württemberg tut so, als seien das alles kleine Parteizentralen.« Bei den meisten Vereinen spiele Politik aber keine Rolle mehr. Schiffauer vergleicht die Geschichte der MillÎ-Görüs-Bewegung gerne mit der der Partei Bündnis 90/Die Grünen: »Die Realos überwinden die Fundis.« In der Vergangenheit hat sich der Forscher mit solchen Vergleichen Feinde gemacht. Der Ethnologe aber nimmt ungern ein Blatt vor den Mund. Entsprechend spricht er auch über das LfV Baden-Württemberg.
»Verfassungsschützer in anderen Bundesländern haben die IGMG bereits von der Liste gestrichen. Baden-Württemberg beobachtet immer noch.« Im Bundesgebiet existierten im Verfassungsschutz zwei Flügel, sagt Schiffauer: der liberale und der konservative. In Baden-Württemberg dominiere der konservative Flügel. Sein Ansatz: Wehret den Anfängen. Sein Motto: Auf Nummer sicher geh’n.
Stadt distanziert sich
Schiffauer hält das für einen großen Fehler: »Wenn wir die IGMG weiter beobachten, isolieren wir sie.« Reformern in der Gemeinde sei damit der Weg verbaut. Der Forscher plädiert für Integration statt Abgrenzung. Die Reutlinger Stadtverwaltung hat sich anders entschieden. Auf GEA-Nachfrage antwortet Pressesprecher Dennis Koep: Aufgrund der Beobachtung gebe es mit der Zentralmoschee »keine Kooperation und auch keine Einbindung in Projekte wie etwa im Bereich der Integration oder des interreligiösen Dialogs«.
Die Zentralmoschee Reutlingen ist auf sich allein gestellt. Was sie lehrt und wie ihre Mitglieder ticken, bleibt im Verborgenen. Die Moschee liegt mitten in der Innenstadt. In der Stadtgemeinschaft aber weiß kaum einer, dass es sie gibt. (GEA)